Lass sie bluten
nachdem die Zellentüren geschlossen wurden, wer als gefährlich eingestuft wurde und wer als soft galt. Sie war eine Plaudertasche und benutzte mehr Ausdrücke aus dem Fußball als ein Sportkommentator auf Sendung. Das Personal der Anstalt müsse das Spiel lesen, sie hätte am vergangenen Wochenende ein Auswärtsspiel gehabt, manche der weiblichen Aufseher seien richtige Pfostenschüsse, und so weiter. Esmeralda war Fußballfanatiker und Gefängnisfetischist. Hägerström wusste ihre ausführlichen Informationen zu schätzen. Er konnte eine Menge daraus lernen.
Die Salbergaanstalt war relativ neu und aus diesem Grund auch entsprechend sauber. Innerhalb der Mauern aber deswegen nicht weniger steinhart, auch wenn sie nicht unter den erstklassigen Anstalten des Landes geführt wurde. Das Sicherheitssystem war hoch entwickelt und ausgeklügelt. Der Kontrast zwischen der Fassade und dem, was sich dahinter abspielte, verstärkte lediglich die Tatsache: Das Leben hinter Schloss und Riegel veränderte sich in keiner Weise durch frisch gestrichene Wände und elektronische Spezialkameras. Ein gewisser Mief haftete einer Institution als solcher einfach an.
Es gab keinen Gefängnishof. Die Insassen durften für eine Stunde am Tag zu maximal fünft in den eingezäunten Pausenhof hinaus. Sie entschieden selber, mit wem sie gehen wollten. Die Aufteilung erfolgte nach eigenen Regeln: ethnische Zugehörigkeit, Gangmitgliedschaft, Art des Verbrechens. Einige waren immer willkommen: Biker, schwedische Bankräuber, Drogenkönige. Andere gingen allein oder zu zweit nach draußen: diejenigen, die wegen Sexualverbrechen oder Misshandlung von Frauen verurteilt worden waren. Und wieder andere blieben Tag und Nacht in ihren Zellen; diejenigen, die man noch nicht einmal ansehen wollte: die Verräter. Die, die am gefährlichsten von allen lebten.
Jedes Mal dasselbe: Wenn ein neuer Insasse ankam, forderte irgendwer aus dem Korridor sein Urteil an. Gab es von einer Zelle zur nächsten weiter. Alle durften es lesen, beurteilen, verurteilen. Die Verräter mussten dreimal am Tag Pisse aus Plastikbechern schlürfen, erhielten Essensrationen, die mit Kot garniert waren, wurden mit Billardkugeln, die in Strümpfe gesteckt waren, blutig geschlagen. Die Verräter baten nach weniger als vierundzwanzig Stunden darum, den Korridor wechseln zu dürfen, und nach achtundvierzig wollten sie verlegt werden. Einmal Ratte, immer Ratte, so sagte man. Hägerström musste an seinen Auftrag denken. Wenn er erfolgreich wäre, aber enttarnt würde, könnte er Schweden genauso gut für immer verlassen.
Er eignete sich die ungeschriebenen Regeln der Anstalt an. Wie man mit Provokationen von Häftlingen umging, die jeder beliebige Ordnungspolizist blau, gelb und grün geschlagen hätte. Wie man mit Leuten umging, die vier Liter Wasser am Tag tranken – um ihren Urin zu verdünnen, damit die Drogentests negativ ausfielen – oder sich Schnittverletzungen beibrachten und ihre Pisse mit Blut mischten; eine weitere Möglichkeit, um zu verbergen, was man genommen hatte. Er wurde Experte darin, die Zellen der Insassen zu kontrollieren. Im Inneren des Fernsehers klebten sie mit Hilfe von eingetrockneter Zahncreme Redlinetütchen mit Haschisch fest. Er schraubte Computer auseinander: Die Insassen durften eigene Laptops, aber keinen Internetanschluss besitzen. Es waren die perfekten Verstecke für winzig kleine spitze Werkzeuge. Er lernte, die Inhaftierten geschickt zu filzen – es war nicht dasselbe wie auf der Straße, denn hier gab es nichts, womit man ihnen drohen konnte, wenn sie einen auf stur machten. Handys wurden oftmals in Unterhosen versteckt. Esmeralda konnte darüber nur lachen. »Ein verschwitzter behaarter Schritt ist doch das Geilste, was es gibt.«
Nach einigen Tagen begriff er das A und O des Lebens im Knast. Die Gewohnheiten. Dass der Kioskwagen jeden Tag zur selben Zeit hereingerollt wurde, die Pausenzeiten nie geändert wurden, die Essenszeiten genau eingehalten wurden. Diese Jungs konnten nicht noch mehr Chaos in ihrem Leben gebrauchen. Und viele der Insassen fanden die Zeit im Knast im ersten halben Jahr gut. Hatte man viele Monate lang in Untersuchungshaft gesessen, empfand man das Gefängnisleben wie eine Befreiung. Sie durften gemeinsam essen, Spiele spielen, hatten einen geregelten Tagesablauf, der sie ausfüllte.
Wenn sie wollten, konnten sie sich neun Kronen in der Stunde verdienen, indem sie arbeiteten. Briefumschläge falten, Kleiderbügel
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