Lass sie bluten
Hägerström überhaupt hier war: »Es wäre Christer Stare gewesen, aber er hat ja inzwischen aufgehört. Hast du ihn noch kennengelernt?«
Hägerström hatte manchmal den Eindruck, dass die Verdachtsmomente gegen JW eher schwach ausfielen. Warum sollte auch jemand einen Insassen damit betrauen, ihn im Hinblick auf komplexe Wirtschaftskriminalität zu unterstützen? Zugleich, wenn es stimmte, was Torsfjäll glaubte, war es genial. Keiner würde vermuten, dass eine Anstalt als Planungszentrale für Geldwäsche genutzt wurde.
Hägerström tat, was er konnte, jeden Tag. Zugleich wollte er nicht zu aufdringlich sein. Denn JW war nicht dumm. Hägerström und Torsfjäll wussten bereits, dass er halbwegs paranoid war, und das mit gutem Recht. Aber es gab keinen wirklich plausiblen Grund, sich einem neuen Aufseher anzuvertrauen, nur weil der Aufseher nett war. Dafür bedurfte es schon mehr. Hägerström glaubte auch zu wissen, was.
Beim Mittagessen saßen die meisten Insassen im Speisesaal. Die beiden Korridore im zweiten Stock besaßen eine gemeinsame Küche, in der Kochinteressierte das Mittag- und Abendessen selbst zubereiten konnten.
JW saß immer an einem der mittleren Tische. Er hatte blondes, dezimeterlanges Haar. War nicht besonders kräftig gebaut, aber dennoch gut trainiert. Hägerström hatte sich einen Überblick über sein Tagespensum verschafft. JW lief dreimal die Woche zehn Kilometer auf dem Laufband des Studios. Das Interessante war, dass derjenige, der gerade auf dem Band stand, wer auch immer es war, herunterstieg und JW Platz machte, sobald dieser ins Studio kam. Es war offensichtlich, dass die Position, die der Typ hier drinnen einnahm, nicht normal war.
Die Aufseher aßen zur selben Zeit wie die Insassen. Die Idee der Gefängnisleitung war, eine familiäre Atmosphäre zu erzeugen. Aber diese existierte nicht wirklich. Denn alle Aufseher saßen an einem eigenen Tisch. Heute wollte Hägerström jedoch etwas ausprobieren.
JW aß gemeinsam mit drei anderen Insassen. Hägerström hatte sich ebenfalls über sie informiert. Torsfjälls Berichte enthielten alle Details. Links von JW saß ein fünfzigjähriger Jugo, der das Rohr genannt wurde, aber eigentlich Zlatko Rovic hieß. Vor zwanzig Jahren war er einmal so stark verprügelt worden, dass er sein Gehör auf dem rechten Ohr verloren hatte. Aber die Ärzte setzten ihm eine Art Apparatur, ein Rohr, in den Gehörgang ein, so dass er sein Ohr wieder benutzen konnte. Er war ein ehemaliger Torpedo, der umgesattelt hatte und sich inzwischen mit Rechnungsbetrügereien und anderen Wirtschaftsdelikten befasste. Auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches saß ein jüngeres Genie mit dem Spitznamen Narren-Tim. Sein vollständiger Name lautete Tim Bredenberg McCarthy. Der Typ war dreiunddreißig Jahre alt, ehemaliger Fußballhooligan und in den Neunzigerjahren eine der Leitfiguren in der Szene gewesen. Inzwischen befasste auch er sich mit Wirtschaftskriminalität, allerdings in einem kleineren Rahmen. Der letzte Mann am Tisch hieß Charlie Nowak. Er war ein anderes Kaliber: zu hundert Prozent Gewalttäter. Zuletzt wegen schwerer Körperverletzung und Erpressung verurteilt. Er war zweiundzwanzig Jahre alt. Er musste sich der Gruppe aus anderen als wirtschaftskriminellen Gründen angeschlossen haben, aber das erstaunte Hägerström nicht weiter. Heutzutage waren unheilige Allianzen dieser Art geradezu an der Tagesordnung. Die Gangster taten sich mit den Superhirnen im Knast zusammen, wie Torsfjäll es ausdrückte.
Hägerström fragte, ob jemand etwas dagegen hätte, wenn er sich dazusetzte.
Das Rohr legte sein Besteck zur Seite. Narren-Tim erstarrte. Charlie Nowak hörte auf zu kauen.
Aufseher und Insassen setzten sich einfach nicht gemeinsam an einen Tisch. Sie waren wie Öl und Wasser, unvermischbar. Also war es undenkbar.
JW aß ruhig weiter. Führte seine Unterhaltung mit den anderen fort. Schaute nicht einmal auf.
Das Signal war deutlich. Für JW war es in Ordnung.
Die anderen entspannten sich.
Hägerström setzte sich. Das Rohr ließ ihn nicht aus den Augen.
JW schnitt weiter sein Bœuf Stroganoff in kleine Teile. Hielt das Messer weit unten am Schaft, sorgfältig. Er teilte jedes Fleischstück in drei Teile. Mischte sie mit Reis. Schob eines der Teile, das er ausgewählt hatte, auf die Gabel. In Hägerströms Augen erinnerte es ihn an die Tischmanieren eines aufs Essen fixierten Teenagers.
Er konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, wie
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