Lassen Sie mich durch, ich bin Mutter: Von Edel-Eltern und ihren Bestimmerkindern (German Edition)
noch dieselbe: hier, die zweite von oben.
Wie es mir geht, fragen Sie. Naja, ich habe gut zu tun. Meine Praxis ist jeden Tag von acht bis zwölf geöffnet, außerdem zweimal pro Woche von vierzehn bis achtzehn Uhr. Das klingt ganz gemütlich, ist es aber nicht, weil ich zusätzlich noch alle möglichen Briefe und Anträge für die Patienten schreibe. Also Kuranträge, Gutachten für den Psychologen, Bescheinigungen, so etwas, das mache ich alles zusätzlich zur Sprechstunde, das zahlen die Kassen ja nicht. Auch nicht, dass ich hier jede Menge Lebensberatung gebe für all die Eltern, die nach Struktur suchen, nach Hilfe, weil ihre Kinder nicht schlafen, weil Kinderhaben wirklich anstrengend ist und sie das logischerweise manchmal fix und fertig macht.
Was ich hier sehe, sind die riesigen Erwartungen, die die Eltern an ihre Kinder haben. Sie freuen sich auf das Baby, und dann kommt es auf die Welt und sie können nicht schlafen. Das ist schlimm, ich weiß. Aber die Mütter und Väter setzen sich ihren Kindern gegenüber auch nicht durch. Sie wollen weiter was erleben und auf nichts verzichten. Und damit das Kind ruhig bleibt, lassen sie zum Beispiel zu, dass es andauernd den Nuckel drin hat. Das ist ja eine Möglichkeit, ein Kind ruhig zu kriegen – aber am Tage, wenn es wach ist, sollte man den weglassen. Allerspätestens, wenn das Kind läuft, gehört der Nuckel tagsüber weg.
Viele denken auch, sie müssten endlos stillen. Ich finde, zwölf Monate wären das höchste der Gefühle, aber ich sehe hier Stillkinder, die sind drei, vier Jahre alt und kriegen davon eine Vorderzahnkaries. Auch weil ihnen ständig etwas zu trinken angeboten, immer etwas in den Mund gesteckt wird. Die Eltern haben diese Wasserflaschen dabei und fragen mich dann besorgt, warum das Kind so viel trinkt, ob es vielleicht einen Diabetes hat. Dabei ist das nur eine schlechte Angewohnheit, die man einfach abstellen muss.
Als modernes Allheilmittel gilt hier im Bezirk die Ergotherapie. Das ist eine zeitgemäße, kassenfinanzierte Möglichkeit, sich und das Kind zu beschäftigen. Es ist ja ein allgemeines Hin- und Herschaffen zu beobachten: zum Arzt, zum Ergo, zum Logopäden, zum Babyyoga, zu irgendeiner Art von Förderung. Da wartet dann jemand anderes, der was mit dem Kind macht. Die Mütter sitzen schon ab morgens im Café oder auf dem Spielplatz, ich sehe das ja. Da unterhalten sich eher die Frauen untereinander, als dass sie mit ihren Kindern spielen. Und die Kinder wissen auch gar nicht mehr, wie man spielt. Sehen Sie hier noch jemanden Hopse spielen? Oder Fangen? Die Kinder sind symbiotisch mit ihren Müttern, die stellen so was wie die besten kleinen Freunde der Frauen dar. Es wird auch viel zu viel erklärt, ständig reden die Eltern auf die Kinder ein und begründen ihr Tun. Das tut den Kindern nicht gut, die brauchen Entscheidungen und Struktur, daran können sie wachsen.
Hier wohnen inzwischen kaum noch sozial Schwache, für eine Ärztin wie mich ist das eine richtig gute Klientel: Alle haben Geld. Ich denke ja manchmal, die Leute meinen, wir hätten in Ostberlin noch so eine Art halben Sozialismus. Gesundheit darf nichts kosten. Und wenn die Leute doch für etwas zu zahlen bereit sind, dann ist das meist Homöopathie oder es sind Sachen, die ihnen die Apotheker eingeflüstert haben: Das wirkt Wunder, sagen die, und das können Sie sich auch ganz einfach von Ihrer Kinderärztin nachrezeptieren lassen. Gestern war hier eine Mutter, die hatte sich Läusemittel aufschwatzen lassen, 350 Milliliter für 75 Euro. Ich hab ihr das Rezept geschrieben, ich hab bei so etwas einfach nicht die Kraft zu widersprechen. Aber wenn ich bedenke, dass ich pro Patient ungefähr 35 Euro von den Kassen bekomme, ist das natürlich ein Hammer.
Ich schicke selten jemanden weg. Wenn die Eltern hier ankommen mit ihren kranken Kindern und sagen: Frau Doktor, Sie wurden uns empfohlen, Sie sollen so eine tolle Kinderärztin sein, dann lächle ich. Aber eigentlich möchte ich das nicht hören. Die Leute können wirklich nicht einschätzen, ob ich gut bin als Medizinerin. Sie können mich mögen oder so, das ist schön, aber das andere wissen sie einfach nicht.
Es gibt eine Mutter, die hat gewechselt, weil sie sehr unzufrieden mit mir war – und ehrlich gesagt auch ein bisschen dämlich, wie ich finde. Dabei habe ich ihrem Kind das Leben gerettet. Morgens war sie hier, da hatte das Kind seit zwei Tagen Fieber. Ich habe sie nach Hause geschickt, und wir haben
Weitere Kostenlose Bücher