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Lassen Sie mich durch, ich bin Mutter: Von Edel-Eltern und ihren Bestimmerkindern (German Edition)

Lassen Sie mich durch, ich bin Mutter: Von Edel-Eltern und ihren Bestimmerkindern (German Edition)

Titel: Lassen Sie mich durch, ich bin Mutter: Von Edel-Eltern und ihren Bestimmerkindern (German Edition)
Autoren: Anja Maier
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verabredet, dass ich sie mittags anrufe, um mal zu hören, wie es dem Kind geht. Da war auch noch alles okay so weit. Aber irgendwas hat mir nicht gefallen, irgendwas stimmte nicht. Deshalb habe ich gesagt, wir telefonieren noch mal nachmittags. Aber da war die ganze Zeit besetzt, also bin ich nach Praxisschluss bei ihr zu Hause vorbeigefahren, ist ja gleich hier ums Eck. Sie war erstaunt, dass ich vor der Tür stehe und hat gesagt, es ist alles in Ordnung mit ihrer Tochter. Na, habe ich gesagt, wenn ich schon mal hier bin, will ich sie mir auch schnell noch mal ansehen. Und da hatte die Kleine schon diesen abgewandten Blick und fing an zu krampfen. Ich habe sofort in der Klinik angerufen und alles für einen akuten Meningitis-Fall vorbereiten lassen.
    Die Frau hat danach zu einem anderen Kinderarzt gewechselt. Sie war der Meinung, die Hirnhautentzündung hätte ich schon morgens in der Praxis diagnostizieren müssen. So etwas geht mir nach, wissen Sie. Ich brauche Anerkennung, und ich spüre den Druck, der auf mir lastet. In so einer Einzelpraxis sind Sie allein mit Ihren Entscheidungen, die müssen Sie oft sehr schnell treffen. Teilweise fühle ich mich mit alldem überfordert und einsam, ich leide mittlerweile auch unter Schlafstörungen.
    Witzigerweise verbindet mich genau dieses Thema mit vielen Eltern. Sie kommen her, weil sie nicht schlafen können. Weil ihre Kinder nicht einschlafen, nicht durchschlafen, weil sie jemanden brauchen, der ihnen mit ihrem neuen Baby Struktur gibt. Die Eltern haben allerdings Ansprüche, die nicht zusammengehen: Sie wollen ein Kind, das früh einschläft und spät wieder aufwacht, damit sie dazwischen viel Zeit für sich haben. So hat das die Natur aber nun mal nicht eingerichtet. Ich erkenne den Lebensrhythmus meiner Patienten zum Beispiel an den Autos hier in der Straße. Wenn ich um halb acht Uhr morgens herkomme, finde ich schwer einen Parkplatz; aber so gegen neun fahren die Leute doch mal los zur Arbeit, dann wird endlich was frei.
    Die Eltern, die heute hier leben, lesen sich unheimlich viel an. Bevor sie zu mir kommen, wissen sie immer schon alles. Ich verstehe das, es ist ja ein Zeichen der Unsicherheit, die sie spüren. Wem sollen sie vertrauen: der Schulmedizin, der Naturheilkunde, der Hebamme? Das Kind ist ja das Kostbarste, was sie haben. Neulich war eine Frau zur U2 hier, der Kinderuntersuchung nach der ersten Lebenswoche. Das Baby hatte ein Nabelgranulom, eine Gewebswucherung am Nabel. Na, sage ich zu der Mutter, das ätzen wir weg, ich geb Ihnen einen Ätzstift mit. Danach kam sie nicht wieder. Heute habe ich angerufen, ich brauche ja den Stift zurück. Ja, sagt die Mutter, Stift kommt morgen, Kind wurde von der Hebamme mit Kochsalz behandelt. Wenn die Frau morgen herkommt, werde ich das ihr gegenüber nicht als Problem darstellen. Mit so was halte ich mich inzwischen zurück.
    Alles soll ja »natürlich« sein, was man dem Kind verabreicht. Aber wenn es hustet und hustet, will man doch ein wirksames Mittel. Die Kinder heute sind nicht kranker als vor zehn oder zwanzig Jahren. Was aber immer weiter zunimmt, sind Hautprobleme. Klar, Sauberkeit und Chemie sind was Wunderbares, aber die Kinder entwickeln dadurch kaum noch Resistenzen. Naja, und die Läuse. Das ist halt normal in einer Großstadt, wo so viele Menschen eng beieinanderwohnen.
    Als ich vor zwanzig Jahren meine Praxis eröffnet habe, bin ich extra in den Prenzlauer Berg gegangen. Ich hätte ja auch, nur mal zum Beispiel, in den Wedding gehen können. Aber das wollte ich nicht: Das wäre ja im Westen gewesen, und den kannte ich da einfach nicht. Also hier. Dann kamen die ersten Westeltern mit ihren Kindern, und ich stellte fest: Die sind ja richtig nett. Aber auch deutlich komplizierter. Was denen so ein bisschen abgeht, ist, sich auch mal Gedanken um andere zu machen. Die haben geerbt, haben also Geld oder eine schöne Eigentumswohnung, brauchen nicht so viel zu arbeiten und haben Zeit, sich ganz gründlich ihrer Elternschaft zu widmen. Das ist manchmal wirklich anstrengend.
    Sozial Schwache sehe ich eigentlich kaum noch. Das finde ich schade. Es gibt hier keinen Kevin mehr, keinen Maik, dafür ganz viele Nepomuks und Lottas. Die Gesellschaft spaltet sich in Bildungsferne und Bildungsnahe. Das ärgert mich sehr. Ich habe darüber nachgedacht, wie man solche einseitigen Strukturen aufbrechen könnte und stelle mir vor, Berlin würde alle Schulen in den Problembezirken schließen – da gäb’s dann einfach
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