Lassen Sie mich durch, ich bin Mutter: Von Edel-Eltern und ihren Bestimmerkindern (German Edition)
einfach andere, sehr ungute Assoziationen, die mit der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts verbunden sind. Doch sei’s drum, die Chariots sind eine Klasse für sich. Man kann mit ihnen so gut wie alles: joggen, radfahren, trekken, langlaufen … Schaut man sich die Websites an, ist dort irritierend wenig von Kindern, sondern viel von grenzenlosem Abenteuer die Rede.
Wie stets, wenn es um modernes Equipment-Marketing geht, tragen die Modelle verheißungsvolle Namen: Captain, Cabriolet, Corsaire heißen die Zweisitzer für die Stadt. Cheetah, Cougar oder schlicht CX werden die Outdoormodelle fürs Einzelkind genannt. Beim Captain, also dem, der alles hat und kann, geht es mit 750 Euro los. Dazu kommen noch die Fahrradkupplung, der Kinderwagengriff, eine Matratze, ein Fußsack oder das Regenverdeck – für zusätzliche 270 Euro ist man dann endlich ausgestattet und bekommt großzügigerweise die Reflektoren und den obligatorischen Wimpel geschenkt.
Dieser Wimpel, eine Art orangefarbenes Signalfähnchen, ist tatsächlich lebenswichtig. Denn nicht nur, dass der kostbare Nachwuchs in seiner Transportbox an ein Fahrrad gehängt und auf Auspuffhöhe von den Autos zugegiftet wird, er ist da unten für Autofahrer auch verdammt schlecht zu sehen und liegt in den Kurven wie ein Schwerlasttransporter. Er stellt also alles in allem eine echte Gefährdung dar, sowohl für seine Insassen als auch für andere Verkehrsteilnehmer, die ihres Lebens nicht mehr froh würden, sollten sie so ein fahrbares Zelt unter die Räder kriegen. Besonders raffiniert ist, dass der Chariot werkseitig ohne Licht ausgestattet ist. Das haben ja auch viele Radfahrer nicht. Möchte man da mainstream sein?
Eine Lichtanlage hingegen kann man bei den immer öfter zu sehenden Lastenfahrrädern gern dazubestellen. Die zu befördernde Last besteht hier aus Kindern, die in einem vorn montierten Kasten auf einem Bänkchen hocken und verdammt wenig von der Welt mitbekommen – gerade so kann man im Vorbeifahren ihre Mützchen oder Pagenschnitte erkennen. Diese Gefährte haben aber wenigstens Licht. 84 Euro kostet so eins, aber das fällt schon nicht mehr groß ins Gewicht bei einem Fahrzeug, das als Grundpreis 1575 Euro aufweist.
Mit Zusatzelementen wie Sitzen für die Kinder, Bremsen, die tatsächlich bremsen, Regendach und Licht kommt man ganz schnell auf 2500 Euro. Nach oben ist da noch alles offen, und das Kettenschloss für 135 Euro eine schlichte Selbstverständlichkeit. Ich hoffe, dass Leute, die sich so ein massiges dänisches Transportding zulegen, stattdessen wenigstens aufs Auto verzichten. Es geht die Rede, dass viele der zugezogenen Ausländer Probleme haben, ihre Führerscheine anerkannt zu kriegen und deshalb auf diese Räder ausweichen. Verstehen kann ich das gut. Aber es wird halt verdammt eng hier.
Denn wenn es Nachmittag wird im Prenzlauer Berg, bricht das Cruising aus, die Parade der längsten, breitesten und behinderndsten Kinderbeförderungsmittel. Die Eltern holen ihre Kleinen aus den Kitas ab, sie fahren nun nach Hause, zum Biosupermarkt oder auf den Spielplatz. Richtig voll wird es dann und im Fahrzeugbegegnungsfall auch schon mal ungemütlich. Denn wo sich zwei Kutscher auf dem Bürgersteig begegnen, wo sie stehen bleiben und ein Schwätzchen halten, wird der Weg unpassierbar. So vertieft sind die Mütter oder Väter in ihre Gespräche, dass ihnen schlicht entgeht, wie sich die Passanten vorbeiquetschen müssen, wie sie »Entschuldigung?« murmelnd den doppelten Schubverband zu passieren versuchen. Das alles sehen, hören und spüren sie nicht.
Erst dann, wenn eine autorisierte Person um Durchlass bittet, wird die Gasse freigemacht. Wer autorisiert ist? Natürlich eine Mutter oder ein Vater, die mit ihrem Kinderwagen, seinem Lastenrad oder dem Chariot beim besten Willen nicht mehr durchkommen. Glück haben jene Fußgänger, die in solchen Momenten zur Stelle sind und unbeschadet den Stau passieren können. Alle anderen müssen auf die Straße ausweichen oder geduldig warten, bis die Mutterschiffe die wichtigsten Informationen erschöpfend ausgetauscht haben. Erst dann kann’s für alle weitergehen.
Es sind solche Momente, diese Me-first -Situationen, die selbst im elternfixierten Prenzlauer Berg immer mal wieder zu Unmut führen. Schließlich können ja die anderen Bewohner nichts dafür, dass der Familienrat beschlossen hat, seinen Nachwuchs in sauteuren riesigen Gefährten durch den urbanen Raum zu karren. Und sie sind auch
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