Lassen Sie mich durch, ich bin Mutter: Von Edel-Eltern und ihren Bestimmerkindern (German Edition)
Tierpark! Früher, in den Achtzigerjahren, habe ich in Charlottenburg gewohnt, da war’s irgendwann auch so: ordentlich, es gab gute Restaurants, und die Touristen sind durch die Straßen gezogen.
Manchmal habe ich hier dieses Déjà-vu: der Kollwitzplatz als der Savignyplatz des Ostens, ordentlich, bürgerlich, bunt. Obwohl mir das gefällt, kann ich nicht den spöttischen Ton überhören, mit dem Alteingesessene dieses Wort aussprechen: BUNT . Wo ist es hin, ihr Land? Es gibt eine Stelle am Anfang der Knaackstraße, wenn man von der Prenzlauer Allee kommt, dort liegen am Boden große, abgelaufene Steinplatten. Jeden Tag gehe ich drüber und verkneife mir, meine Wange da draufzulegen, um zu spüren, wer und was sie so platt getreten hat. Ich fühle Geschichte hier, die wird die neue Buntheit nie übertünchen können.
Als Fotografin habe ich sehr viel mit den Leuten zu tun, die hier leben und sich von mir porträtieren lassen, ich sehe also unmittelbar, wie die drauf sind. Da kommen Künstler oder Menschen aus dem Coaching-Bereich, die für ihre Website ein gutes Bild brauchen. Aber auch Ältere und Alteingesessene, ja, die kommen auch. Meine Idee ist es, mit den Leuten so lange zusammen zu sein, bis ich ein Bild aufnehme, das sie wirklich zeigt. Mein künstlerisches Konzept heißt »Wer bist du?«. Damit verbinde ich, dass sich die Kunden fragen können: Wie sehe ich mich? Wie sehen mich andere? Wie will ich gesehen werden oder wer wollte ich schon immer mal sein? Das erfordert Mut, macht aber auch unglaublich viel Spaß.
Ich mache das jetzt seit drei Jahren, und ich kann sagen: Jeder Mensch ist schön – wenn er loslässt. Und das ist das Besondere an meinen Bildern. Wenn die Menschen zu mir kommen und ich zu Beginn auf den Auslöser drücke, damit sie sich an die Studiosituation gewöhnen, dann schaue ich in verschlossene Gesichter. Ich sehe Angst, eingeübte Stärke, anerzogene Lockerheit. Ihre Münder sind verkrampft, sie machen die Augen nicht richtig auf, das ist ja auch alles schwierig und ungewohnt für sie. Am Ende zeige ich ihnen ihre Bilder: die zwanzig guten, auf denen sie toll aussehen, aber auch die anderen, vor denen sie Angst haben. Oft weinen sie dann, weil sie sich schön finden und sie so glücklich sind.
Die Leute hier aus der Ecke sehen gut aus: gesund, gepflegt und gebildet. Das heißt natürlich nicht zwingend, dass sie zufriedener sind. Es ist auch eine Herausforderung, im Prenzlauer Berg zu wohnen. Man muss sich das leisten können. Der Kollwitzmarkt zum Beispiel ist scheißteuer, ehrlich, ich kaufe da nichts mehr ein. Vor zehn Jahren habe ich dort noch junge Leute gesehen, die für ihre Wohngemeinschaft die Sachen besorgt haben. Von denen gibt’s aber kaum noch welche. Schade eigentlich … Wenn ich mir hier so zuhöre, krieg ich echt Angst. Wo geht es hier mit uns hin? Jede Zeit hat ihre Regeln. Hier und heute braucht es Erfolg, Stärke, Forschheit, und das überfordert uns oft. Ich merke das ja, wenn ich bestimmte Leute für mein privates Projekt porträtieren möchte. Da geht es um das Thema Stille, ich möchte gern zeigen, was Stille mit Menschen macht. Diese Leute möchten auch mitmachen, sie wollen diese Fotos – aber sie haben nie Zeit dafür. Das sagt doch alles, oder?
Stille und Zeit sind mittlerweile sehr wertvoll geworden, finde ich. Es ist unglaublich schwer, diesem Sog aus Erfolg und Stärke nicht nachzugeben, sich auf das zu besinnen, was wichtig ist und ganz Vieles einfach nicht mitzumachen. Mir tut diese Hast nicht gut, das habe ich gelernt, und deshalb leiste ich mir, so zu leben, wie ich das tue. Ich habe seit Jahren keinen Urlaub gemacht. Ich will jeden Tag so leben, dass ich keinen Urlaub brauche. Und das mache ich. Was kann ich schon tun gegen dieses Laute, Grelle des Zeitgeistes, außer meine Bilder der Stille dagegenzuhalten und die Preise nicht am Kunstmarkt, sondern am Geldbeutel des Normalbürgers zu orientieren.
Inzwischen ist es auch mir hier manchmal zu viel. Deshalb vermieten wir von Zeit zu Zeit unsere Wohnung an Touristen und flüchten in eine Hütte in Brandenburg. Das genieße ich, aber gehen werde ich nicht. Ich weiß, ich werde mich noch mit achtzig meine Treppe hochquälen. Hier bin ich richtig. Ich muss hier leben.
Ich verabschiede mich und verspreche, ihr den Text noch einmal zuzumailen. In den nächsten Tagen werden wir eine anrührende Korrespondenz haben: Es geht um Lebensentwürfe, Selbst- und Fremdbilder und natürlich um die Frage
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