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- Lasst die Toten ruhen

- Lasst die Toten ruhen

Titel: - Lasst die Toten ruhen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Kotowski
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ermuntert hatte und, von ihm unterstützt, dem Wagen zuwanken konnte. ›Du zitterst an allen Gliedern, deine Lippe blutet – wenn du geglaubt hast, dass es eine passende Nachkur nach Wildbad sein möchte, hier im Nachttau auf der kalten Erde zu schlafen, so bist du in einem großen Irrtum.‹
    Nicht um die Welt hätte ich’s übers Herz gebracht, ihm den wahren Zusammenhang mitzuteilen. Der feurige Wein habe mich noch so spät umgetrieben, sagte ich, und so sei ich zuletzt dort am Gitter, wo ich einen Augenblick rasten wollte, von einem Schwindel überrascht und zu Boden geworfen worden.
    Das klang nicht unwahrscheinlich. Auch verfiel ich, nachdem mein hilfreicher Freund mich in meinem Gashofbette zur Ruhe gebracht, sofort in einen tiefen, gesunden Schlaf, den niemand ängstlich zu bewachen brauchte. Als ich am späten Morgen aufstand, durch den Besuch des Doktors ermuntert, schien jede Spur des unheimlichen Nachtbesuchs verschwunden.
    Dennoch war ich durchaus nicht so tapfer, wie es einem Soldaten geziemte und wie Sie, mein gnädiges Fräulein, es mir gütigst zugetraut haben. Als der Abend kam – den Tag hatte ich in beklommenem Brüten auf meinem Zimmer zugebracht –, schrieb ich ein Billett an den Freund, ich müsse noch mit dem Nachtzuge abreisen. Auch jetzt gestand ich den wahren Grund nicht ein. Ein Arzt – ein Skeptiker von Beruf –, wie hätte ich denken können, dass er meinem Bericht Glauben geschenkt hätte? Muss ich nicht fürchten, dass ich selbst Ihnen, verehrte Freunde, entweder als ein sonderbarer Schwärmer oder als ein fabulierender Fantast erscheine, der diese Geschichte sich aus den Fingern gesogen, um sein Pfand nicht hergeben zu müssen?«
    Wir waren alle verstummt. Auch das Fräulein schwieg eine Weile und sah nach der Zimmerdecke, an der der runde Lichtschein der Lampe spielte. Endlich sagte sie:
    »Wenn ich ehrlich sein soll – aber ich darf Sie nicht dadurch verstimmen, lieber Herr Oberst –, Ihre ganze Spukgeschichte halte ich nur für einen starken, ungewöhnlich hellen und zusammenhängenden Traum, den Sie geträumt haben. Der Portier des Hotels kann Ihnen nicht als Zeuge dienen, da er geschlafen haben soll, als zuerst die Frau und dann Sie selbst die Treppe betraten. Übrigens, wenn wirklich Wein dies ganze Abenteuer in Ihrem Kopfe gedichtet haben sollte, auch diesmal wäre im Weine Wahrheit gewesen – Ihr Gefühl für die verlassene Geliebte und die Nemesis, die sich Ihnen durch die entsetzliche Umarmung des Albs offenbart hätte.«
    »Ich war auf diese Erklärung gefasst«, sagte der Oberst und sah still vor sich hin. »Aber was sagen Sie zu Träumen, die in der Wirklichkeit sichtbare Spuren zurücklassen? Als ich am Morgen an meinen Tisch trat, war der Strauß von Rosen und Jasmin aus dem Glase verschwunden. Auf dem Sofa aber lag ein dürres Sträußchen verblichener Immortellen.«
        

Nachbemerkung
    Der Literaturwissenschaftler Tzvetan Todorov verwendete den Begriff »Fantastik« in seiner Monografie »Einführung in die fantastische Literatur« (München 1972) auf recht eigentümliche Weise. Nach ihm ist eine Geschichte genau dann fantastisch, wenn der Leser nicht sicher entscheiden kann, ob die geschilderten Ereignisse mit natürlichen oder mit übernatürlichen Mitteln zu erklären sind. So eine Geschichte ist »Die schöne Abigail«.
    Zunächst stellt sich die Frage, ob der Oberst die Geschichte wirklich erlebt oder sich bloß für die Gesellschaft ausgedacht hat. Zwar versichert er, dass sie nicht erdacht ist, doch kein Lügner würde von dieser Zusicherung zurückschrecken, daher ist sie nichts wert. Dennoch gibt es einen klaren Hinweis: Der Oberst erblasst. Dies ist in der älteren Literatur ein untrügliches Zeichen für eine unwillkürliche Gefühlsregung.
    Nun zu der Frage, ob Abigail Geist oder Weingeist ist – Letzteres nimmt die Schwester der Hausherrin an. Einiges spricht dafür. Der Oberst hat den Abend alleine und trinkend verbracht, was ihn stets in eine trübsinnige Stimmung versetzt. Hinzu kommt, die überraschende Feststellung, dass er sich in der Stadt befand, in der die Jugendliebe, der er vermeintlich unrecht tat, leben müsste. Dazu passt, dass der Nachtschwärmer Abigail anscheinend nicht bemerkt. Der Oberst hat indes ein starkes Gegenargument: Am nächsten Tag waren die Immortellen immer noch in seinem Zimmer. Damit scheint das Pendel eindeutig in Richtung »übernatürlich« auszuschlagen. Dies ist jedoch nicht ganz so sicher, wie es

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