- Lasst die Toten ruhen
aussieht, denn der Oberst ist als Erzähler nur bedingt zuverlässig: Als er das erste Mal den Namen »Windham« erwähnt, gibt er an, dieser habe in seiner Jugend eine Hauptrolle gespielt. Das stimmt nicht, denn der Oberst erfährt von der Heirat nur gerüchteweise, als Abigail schon aus seinem Leben verschwunden war – eine Hauptrolle ist das wahrlich nicht. Daraus folgt, dass aufgrund des Erbleichens und der Immortellen der Oberst sicher ist, etwas Übernatürliches erlebt zu haben, doch aufgrund seiner Unzuverlässigkeit kann der Leser es nicht sein. Damit gehört die Geschichte zur Fantastik im Sinne Todorovs.
Der unsichere ontische Zustand von Abigail ist wichtig, wenn man Heyses Umgang mit dem Vampirmotiv angemessen würdigen will.
Schon als Lebende besitzt Abigail Unheil verkündende Eigenschaften: Sie ist blass, hat kalte Augen, die ihre kalte Seele widerspiegeln, und besitzt einen schönen Leib. Kurzum: Sie besitzt alle Attribute einer Schönen Toten. Wer mehr über die Rolle des Motivs der Schönen Toten in der Vampirgeschichte wissen will, dem sei das Kapitel »Der Vampir« aus Hans Richard Brittnachers Monografie »Ästhetik des Horrors« empfohlen; hier nur so viel: Die Schöne Tote spielt in vielen Vampirgeschichten, vor allem den älteren, eine große Rolle. Überraschend gut fügt sich Abigails weitere Beschreibung zu Brittnachers entsprechendem Abschnitt. Zwar sind die Augen kalt und damit stets ein wenig bedrohlich, doch am deutlichsten verkünden ihre Lippen die Gefahr – sie sind bald durstig, bald lechzend, später liegt ein entstellender Zug um ihren Mund. Damit liegt Abigail mit den Vampirinnen aus Karl Hans Strobls »Das Grabmal auf dem Père Lachaise« (1914), F. G. Lorings »Sarahs Grab« (1900) oder Gautiers »Die liebende Tote« in einer Linie, auch wenn Abigail ambivalenter ist. Außerdem ist sie bezaubernd – solange der Oberst in ihrer Nähe weilt, kann er sich nicht von ihr lösen. Erst im Krieg, als der Kontakt abbricht, gelingt ihm dieses.
Als Revenant werden die Attribute noch verstärkt. Und sie erhält noch weitere: Sie hat einen schwebenden Gang und gleitet durch die Gitterstäbe wie eine Wolke und doch kann sie den Oberst mit einer solchen Kraft packen und halten, dass er sich nicht von ihr befreien kann. Schließlich saugt sie ihm mit einem Kuss das Leben aus dem Leib – oder beinahe, denn er überlebt. Als Zeichen des Vampir-Kusses bleibt sein Blut auf seinen Lippen. Auch wenn es nicht explizit gesagt wird, so muss Abigail am Tag in ihrem Grab ruhen – das Mondlicht führt sie zum ehemaligen Freund.
Heyse verwendet das Vampirmotiv, allerdings quasi verwischt. Es ist nicht eindeutig, dass sie tot ist, sie saugt das Leben, aber es tritt nur eine Spur Blut auf; sie vereint Elemente des nicht-stofflichen Gespenstes mit denen des stofflichen Vampirs. Auch als Verführerin ist sie unentschieden – es scheint, als wolle sie den Oberst nur necken, bis er mehr einfordert. Diese geisterhafte Vampirin und zögerliche femme fatale spiegelt wiederum den Grundtenor der Geschichte – wie die Glaubwürdigkeit des Erzählers fragwürdig und fantastische Erzählung im Sinne Todorovs insgesamt in einem labilen Zustand ist, so sind auch die Attribute Abigails unsicher und zweideutig.
Vorbemerkung
Stanislaw Przybyszewski wurde 1868 in Aojewo in Polen geboren. Er begann 1889 ein Architekturstudium in Berlin, welches er aber schnell abbrach. Er wechselte zum Medizinstudium an der Humboldt-Universität. Da ihm aufgrund dieses Wechsels sein Stipendium nicht länger gewährt wurde, wandte er sich der Schriftstellerei zu; er verfasste sein erstes veröffentlichtes Werk, den zweiteiligen Essay »Zur Psychologie des Individuums: I. Chopin und Nietzsche. II. Ola Hansson«, um sein Studium zu finanzieren. Aufgrund seiner Kontakte zur Arbeiterbewegung wurde ihm allerdings ein Studienabschluss verwehrt. In den folgenden Jahren war er als Schriftsteller und Redakteur verschiedener Zeitungen tätig. In dieser Zeit war sein Leben voller Wandel: Er reiste viel in Nord- und Osteuropa, wechselte mehrfach in diesem Gebiet den Wohnort, hatte mehrere Verhältnisse und seine Frau Dagny wurde ermordet. Letztlich begann, sein literarischer Stern zu sinken, und er übte profanere Tätigkeiten aus. So verfasste er im Ersten Weltkrieg Propagandaschriften für Deutschland, auch wenn er sich für einen Ausgleich zwischen Deutschland und Polen einsetzte. In späteren Jahren war er bei der Post in Posen, in der
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