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- Lasst die Toten ruhen

- Lasst die Toten ruhen

Titel: - Lasst die Toten ruhen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Kotowski
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unverschlossenen Hause hinaus. Draußen wollt ich mich ihres Armes bemächtigen, sie schüttelte aber stumm den Kopf und ging ruhig ihres Weges, doch so dicht neben mir, dass, wenn sie sich zu mir wandte, der kühle Hauch ihres Mundes mich berührte. Das geschah nicht oft. Meist sah ich nur ihr Profil, und wieder fiel mir der durstige, lechzende Ausdruck ihres Mundes auf, halb geöffnet, dass die Zähne vorschimmerten, die Oberlippe ein wenig vorgestreckt. Sie hatte den Kopf in den Nacken geworfen, das Haar war aufgegangen und floss unter dem Schleier über ihren Rücken, die nackten Arme lagen übereinandergeschlagen unter der entblößten Brust, die sie dem Nachtwind preisgab.
    ›Friert dich nicht?‹, sagte ich.
    Sie schüttelte nur wieder den Kopf. Dann warf sie mir plötzlich einen argwöhnisch lauernden Seitenblick zu.
    ›Du genierst dich, so mit mir über die Straße zu gehen‹, sagte sie. ›Aber sei unbesorgt, ich kompromittiere dich nicht. Auch wenn uns jemand begegnete, er würde nicht denken, ich führte dich jetzt zu einer Schäferstunde. Ich habe einen sehr guten Ruf. Niemand würde wagen, ihn anzutasten. Man weiß, dass ich ganz ehrbar und abgeschieden wohne und keinen Mann über meine Schwelle lasse außer dem alten Gärtner, der mir meine Blumen in Ordnung hält. Auch komm ich gar nicht an die Luft, was hätte ich auch draußen zu suchen? Heute habe ich eine Ausnahme gemacht, um deinetwillen, on revient toujours à ses premières amours; [87] aber das hab’ ich dir ja schon einmal gesagt. Ja siehst du, man wird eintönig, wenn man liebt, was liegt daran? Du wirst mich darum nicht verachten.‹
    In diesem Augenblick kam uns ein verspäteter Nachtschwärmer entgegen. Er ging aber an uns vorbei, als sähe er nur mich, nicht das schöne, seltsam gekleidete Weib an meiner Seite, dessen prachtvolle Schultern unter dem schwarzen Schleier sichtbar genug hervorschimmerten. Ich hörte sie leise lachen.
    ›Hab’ ich dir’s nicht gesagt? Der werte Herr war nur so diskret, um mich nicht verlegen zu machen. Meinetwegen könnte er dieses Zartgefühl sparen. Was kümmert mich mein Ruf? Wen geht es was an, wenn ich einem alten Freunde, obwohl er’s nicht um mich verdient hat, etwas zuliebe tun will?‹
    Während sie sprach, eilte sie so rasch vorwärts – immer so lautlos, als ginge sie auf nackten Füßen –, dass ich kaum Schritt mit ihr halten konnte. So kamen wir vors Tor. Diese Gegend war mir unbekannt. Einige ärmliche Häuser, in denen Arbeiter wohnen mochten, standen rechts und links von der staubigen, mit Pappeln bepflanzten Chaussee, und endlich hörte jede Spur einer Ansiedlung auf. Der Mond war hinter eine helle Wolkenschicht gegangen, ein stärkerer Wind hatte sich aufgemacht und sauste durch die Wipfel über uns.
    ›Sind wir bald am Ziel?‹, fragte ich, da ein unheimliches Gefühl mehr und mehr meine Brust beengte.
    ›Bald!‹, flüsterte sie. ›Du siehst schon die Mauer meines Gartens dort zur Linken. Meine Wohnung liegt mitten darin. Bist du aber müde? Willst du umkehren?‹
    Statt aller Antwort suchte ich, sie an mich zu ziehen. Ich fühlte ein brennendes Verlangen, sie auf den weißen Hals zu küssen. Aber wieder entwand sie sich mir und sagte: ›Warte nur! Was du wünschest, wird dir früh genug. Und da sind wir schon. Du wirst dich wundern, wie hübsch ich wohne.‹
    Wir standen vor einem breiten eisernen Gitter, das den Eingang in einen weiten Garten verschloss. Von den Anlagen sah man nichts als eine Allee, die geradeaus sich weit in den Hintergrund erstreckte, aus zypressenartigen Taxussträuchern und Tujabäumchen gebildet, zwischen denen hie und da ein Marmorbild vorleuchtete. Am äußersten Ende ragte ein einstöckiger Bau in die Höhe mit einem halbrunden Dach; das musste die Villa sein. Es lag aber ein so bleicher Nebelduft über allem, dass man in solcher Entfernung nichts genau unterscheiden konnte.
    ›Willst du nicht aufschließen?‹, fragte ich. ›Die Nacht vergeht.‹
    ›Oh, sie ist noch lang genug‹, antwortete sie leise mit einem höhnischen Ton. ›Und ich habe den Schlüssel vergessen. Was fangen wir nun an?‹
    ›Da ist eine Klingel neben der Pforte‹, sagte ich. ›Sie wird den Gärtner wecken, wenn der schon schlafen sollte.‹
    ›Untersteh dich nicht, die Glocke zu ziehen. Niemand darf wissen, dass ich dich bei mir einlasse, der alte Mann am wenigsten. Er würde mich verachten und meine Blumen nicht mehr begießen. Aber wir brauchen auch niemand. Wenn

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