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- Lasst die Toten ruhen

- Lasst die Toten ruhen

Titel: - Lasst die Toten ruhen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Kotowski
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Vollmondnacht kam er nicht.
    Ein Toter ist oft mächtig erfüllt von Sehnsucht nach einem oder dem andren unter seinen zurückgelassenen Lieben, so mächtig, dass er nachts das Grab verlässt und zu ihm kommt. Denn das ist alter Glaube, dass Urda [70] manchem um Mitternacht kurzes Halbleben zurückgibt und dann seltsame Kräfte von jenseits des Grabes verleiht. Kommt besonders vor bei jungen Leuten, die in der Blüte der Jahre der bittere Tod hinwegraffte. Den Zurückkehrenden erfüllt zugleich große Blut- und Wärmebedürftigkeit. Darum lechzt er nach dem frischen Blut der Lebenden und, wie ein Liebender, nach Umarmungen. Aber er teilt auch große Sehnsucht mit und bereitet dadurch oft heftige Qual.
    So auch hier. Har quälte sich den ganzen Tag und härmte sich. Mit Ungeduld aber erwartete er die Nacht und ersehnte die wonnigen Schauer der mitternächtigen Umarmung.
      
    IV.

    So mochten zwölf Tage vergangen sein.
    Lära: Bist so bleich und so blass. Was ist dir, Har?
    Er: Nichts, Mutter.
    Sie: Bist so still.
    Er seufzt.
    Im letzten Häuschen des Dorfs wohnte eine weise Frau, die allerlei Geheimnisse wusste. Zu der ging die besorgte Mutter. Die weise Frau warf die Runenstäbe.
    Weise Frau: Ihn besuchen die Toten.
    Lära: Die Toten?
    Weise Frau: Ja, des Nachts; und daran muss einer sterben, wenn dem Besuch nicht bei Zeiten Einhalt geschieht, eh es zu spät.
    Bestürzt kehrt Lära heim.
    Sie: Ist’s wahr, Har, bekommst du Totenbesuch?
    Er blickt zu Boden. »Manor ist da gewesen«, sagte er leise und sank ihr weinend an die Brust.
    Sie: So mögen dir die Götter gnädig sein!
    Er: Die Götter? Pah! Was sollen mir jetzt noch die Götter! Als er sich an die Planke klammerte, o weh! O weh! Da war es Zeit, mir gnädig zu sein, wenn sie es wollten. Aber erbarmungslos ließen sie ihn versinken. Wie hab ich ihn so lieb gehabt!
    Nun bemerkte sie auch die Blutspuren in seinem Hemde. Da ging sie zu den Dorfältesten. Diese ruderten hinüber nach Wagö mit Mutter und Sohn und auch die weise Frau nahmen sie mit. Zu den Wagöern sagten sie:
    »Eure Gräber schließen nicht. Einer verlässt sein Grab jede Nacht; kommt herüber zu uns; saugt sich voll am Blut dieses Knaben.«
    Die Wagöer: So wollen wir ihn festmachen.
    Griffen einen tannenen Pfahl, manneslang und mehr als armesdick, den sie mit einem Beil viereckig behieben, unten fußlang zugespitzt. Gingen zu den Dünen; einer trug den Pfahl, ein andrer eine schwere Axt. Öffneten Manors Grab. Da lag er ruhig und still vor ihnen da im Totenhemd.
    Erster Wagöer: Seht, er liegt noch so, wie wir ihn hineingelegt.
    Weise Frau: Weil er sich jedes Mal wieder in die alte Stellung legt.
    Zweiter Wagöer: Sein Gesicht ist ja fast frischer als damals.
    Weise Frau: Kein Wunder. Dafür ist Hars Gesicht jetzt desto blasser.
    Har stieg hinab und warf sich nochmals über die geliebte Leiche.
    »Manor! Manor«, rief er mit angsterfüllter Stimme. »Sie wollen dich pfählen! Manor, erwache! Schlage die Augen auf! Dich ruft dein Har.«
    Aber er schlug die Augen nicht auf. Regungslos lag er unter Hars Umarmung, wie vor zwölf Tagen am Strande auf dem Stroh.
    Har wollte ihn nicht loslassen. Sie rissen ihn weg. Setzten Manor die Spitze des Pfahls auf die Brust. Ächzend wandte sich Har. Fiel der Mutter um den Hals. An ihrer Schulter barg er sein Gesicht.
    »Mutter!«, rief er aus; »Warum hast du mir das getan!«
    Die flache Rückseite der Axt hörte er niederfallen auf den Pfahl und den Pfahl stöhnen. Ein schwerer Schlag; noch ein Schlag und noch ein halb Dutzend Schläge.
    Erster Wagöer: Nun ist er festgemacht!
    Zweiter: Das Wiederkommen soll er nun wohl bleiben lassen.
    Har trugen sie halbohnmächtig davon. »Nun wird er dich in Ruhe lassen, mein liebes Kind!«, sagte Lära, da sie wieder in der Hütte waren.
    Betrübt ging er zu Bett. »Nun kommt er nicht mehr!«, sagte er kummervoll vor sich hin. War müde und matt. Friedlos aber und ruhelos wälzte er sich auf seinem Lager. Langsam schlichen die Minuten; träg krochen die Stunden dahin. Mitternacht kam und noch kein Schlaf hatte sich über seine Wimpern gesenkt.
    Horch! Was ist das? Im Fliederbaum … – Doch nein; das war ja unmöglich. Und doch! Wieder, wie früher, raschelte es in den Zweigen des Baums. Das Fenster öffnete sich. Manor war wieder da, seufzte tief auf. Hatte eine große Wunde in der Brust, die viereckig war und ihm bis durch den Rücken ging. Legte sich wieder zu Har, umschlang ihn und sog. Sog verlangender denn

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