- Lasst die Toten ruhen
Hars Augen. Er sah, wie die Schiffbrüchigen mit den Wellen kämpften. Erblickte einen unter ihnen, der mit kräftigem Arm eine Planke ergriff, im nächsten Augenblick aber samt Planke in den Strudel der Brandung hinabgeschlürft ward. Er erkannte ihn. Es war Manor.
Viele Leichen trieb die Flut an’s Land. Man breitete Stroh auf den Strand, legte sie darauf, Leiche neben Leiche. Har half mit, musterte die Niedergelegten. Da brachte man auch Manors Leiche, legte sie auf das Stroh. Lag nun vor ihm da mit nassem Haar, aus dem Seewasser hervortroff, geschlossenen Augen, kalt, mit erblassten Lippen und bleichen Wangen, aus denen das Blut gewichen, schlank von Gestalt, im Tode noch schön anzuschaun. »So also, Manor, muss ich dich wiedersehen!«, rief er aus, warf sich schluchzend über den geliebten Körper und kostete noch einen Augenblick die Wonne der Umarmung.
Man brachte die Leichen über den Sund; begrub sie noch an demselben Tage in den Sanddünen von Wagö.
III.
Am Abend saß Har in der Hütte düster und stumm. Lära wollte ihn trösten. Er aber wollte keinen Trost; er fluchte den Göttern. Ging zu Bett. Konnte nicht einschlafen. Gegen Mitternacht verfiel er in Halbschlummer.
Da weckte ihn ein Geräusch. Er schaute auf. Es war draußen am Fenster. Die Zweige des Fliederbuschs knickten sich, und es raschelte in seinen trockenen Blättern. Das Fenster ward geöffnet; eine Gestalt stieg herein. Ha! Er kannte die Gestalt! Trotz der Dunkelheit hatte er sie sogleich erkannt! Langsamen Schritts kam sie heran; legte sich zu ihm in’s Bett; er zitterte; aber er wehrte ihr nicht. Streichelte ihm die Wangen, aber mit kalter Hand, o!, so kalt, so kalt! Ihn durchschauerte Fieberfrost. Küsste den warmen schwellenden Knabenmund mit eiskalten Lippen. Er fühlte des Küssenden nasses Gewand; nasses Haar hing auf die Stirn herab. Ihn durchfuhr ein Grauen. Aber es war mit Wonne gemischt. Die Gestalt seufzte. Ihm klang’s, als wolle sie sagen:
»Mich trieb die Sehnsucht her zu dir! Ich finde nicht Ruhe im Grabe!«
Er wagte nicht, zu sprechen. Zu atmen wagte er kaum. Und schon erhob sich die Gestalt. Seufzte, als wollte sie sagen:
»Nun muss ich wieder zurück!« Erstieg die Fensterbank; entfernte sich wie gekommen.
»Manor ist da gewesen«, sagte Har leise vor sich hin.
In derselben Nacht war ein Fischer von Strömö draußen im Sund mit seinem Boot. Es leuchtete die See. Von seinem Ruder troffen schimmernde Funken herab. Da, kurz vor Mitternacht, hörte er seltsames Rauschen. Sah, wie etwas hindurchschoss durch die leuchtenden Wellen, etwas, dessen Gestalt er nicht unterschied, mit der Geschwindigkeit eines großen Fisches, in der Richtung auf Strömö. Ein Fisch war es nicht; so viel konnte er im Dunkel erkennen.
In der nächsten Nacht kam Manor wieder, eiskalt wie gestern, doch verlangender. Umschlang den Knaben mit kalten Armen; küsste ihm Wange und Mund; legte den Kopf ihm auf die weiche Brust. Har erbebte. Ihm fing das Herz zu pochen an bei dieser innigen Umschlingung. Und gerade auf das pochende Herz legte Manor den Kopf. Die Lippen suchten den sanft schwellenden Hügel über dem Herzen, der durch das Pochen mit in Bewegung geriet. Dort begann er zu saugen, verlangend und dürstend, wie ein Säugling an Weiberbrust. Doch schon nach wenig Augenblicken ließ er nach; erhob sich; entfernte sich. Har war zu Mute, als ob ein saugendes Tier sich an ihm vollgesogen.
Auch in dieser Nacht hatte der Fischer wieder im Sund zu tun. Genau um dieselbe Stunde wie gestern kam’s wieder herangerauscht. Kam diesmal nah an ihm vorüber. In blassem Mondlicht konnte er erkennen: Es war ein schwimmender Mensch. Schwamm auf der rechten Seite liegend, wie bisweilen Matrosen schwimmen, aber bekleidet mit einem Totenhemd. Ihn schien der Schwimmer gar nicht zu bemerken, obgleich er das Gesicht ihm zugekehrt hielt. Schwamm mit geschlossenen Augen. Der Anblick war ihm so befremdend, dass er seine ausgespannten Netze einzog und wegruderte.
Auch in den nächsten Nächten kam Manor wieder. Umarmte den Knaben bisweilen im Schlaf. Denn hin und wieder überkam ihn der Schlaf, bis Manor kam. Erwachte dann in seiner Umarmung. Jedes Mal suchten die Lippen die weiche Erhöhung über dem Herzen. War es Tag geworden, so sah Har dann und wann, wie aus der linken Brustwarze ihm noch ein schwaches Tröpflein Blut hervorperlte. Wischte es mit dem Hemde weg. War auch wohl schon von selbst ein Tröpflein in’s Hemd gelaufen. Nur in der
Weitere Kostenlose Bücher