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- Lasst die Toten ruhen

- Lasst die Toten ruhen

Titel: - Lasst die Toten ruhen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Kotowski
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wirkungsmächtig formuliert. Seit seinem hundertsten Todestag wird Ulrichs Werk und Wirken wiederentdeckt; so wurde 1998 in München ein öffentlicher Platz nach ihm benannt.
    Die folgende Geschichte »Manor« wurde zum ersten Mal 1885 in der Sammlung »Matrosengeschichten« zusammen mit drei weiteren, thematisch ähnlichen Geschichten veröffentlicht. Sie wurden damals in Deutschland kaum rezipiert.

Manor

— Karl Heinrich Ulrichs
    I.

    Mitten im nördlichen Ozean liegt eine Gruppe von 35 Inseln, einsam und verlassen, gleich fern von Schottland, Island und Norwegen, die Färöer [68] genannt, öde, felsig, wolkenumschleiert, durchtönt von schwermutsvollem Geschrei flatternder Möwen und Kieren, umrauscht von brandenden Wogen, fast stets in Nebel gehüllt. Im Innern Bergesgipfel 1800 und 2000 Fuß über Meer; raue Felsen; düstre Schluchten; Tannenurwälder; Tausende von Quellen, die sich oft aus großer Höhe tosend und schäumend hinabstürzen von Block zu Block. Die Ufer tief eingeschnitten von Buchten und Fjorden; fast überall unnahbar von hohen Felsen umsäumt. Das Meer klippenvoll ringsum; hie und da gänzlich verrammelt; beunruhigt von Wasserwirbeln; von wilden Strömungen durchwogt. Nur 17 sind bewohnt. Strömö und Wagö trennt nur ein schmaler Sund; durchschwimmbar; freilich gehört ein kühner Schwimmer dazu. Mancher Ortsname erinnert an die Zeit, da auf den Färöern noch keine Kirchen standen und der alte Glaube noch nicht vertrieben war, z. B. Thorshavn an der Küste von Strömö, d. i. Strominsel.
    In jenen Tagen ruderte von Stömö ein Fischer mit seinem 15-jährigen Sohne in’s offene Meer hinaus. Es erhob sich ein Sturm; das Boot schlug um; den Vater verschlang das Meer; in die Klippen von Wagö warf es den Sohn. Das sah auf Wagö ein junger Schiffer. Sprang in die Wellen, schwamm zwischen die Klippen, ergriff den treibenden Körper, zog ihn an’s Land. Setzte sich mit ihm auf einen Block; hegte den Halberstarrten auf seinen Knien und in den Armen. Da schlug dieser die Augen auf.
    Schiffer: »Wie heißt du?«
    Knabe: »Har; ich bin von Strömö.«
    Ruderte ihn über den Sund nach Strömö zurück; brachte ihn zu Lära, seiner Mutter. Dankbar umschlang beim Abschied der Knabe den Hals seines Retters. Der Vater ward als Leiche von den Wellen an’s Land gespült. Der Schiffer hieß Manor. War elternlos, vier Jahre älter als Har. Hatte ihn lieb gewonnen. Sehnte sich, ihn wiederzusehen. Ruderte nun bisweilen hinüber nach Strömö oder durchschwamm die lauwarmen Wellen, da der Sommer kam, abends wenn’s Tagwerk vollbracht. Har ging an’s Ufer, erklomm eine Klippe, schwenkte sein Tuch, wenn er von Weitem Manors Nachen kommen sah. Blieben dann beisammen, eine oder zwei Stunden lang. Ruderten hinaus bei ruhiger See und sangen Matrosenlieder. Oder entkleideten sich, tauchten in die Wellen, schwammen zur nahen Sandbank, die gegenüberlag; und die Robben entflohen, die dort auf dem Sande sich sonnten. Oder gingen in den dunkelgrünen Wald hoher Tannen, deren rauschende Wipfel die Sprache Thors verkündeten, oder setzten sich unter die Zweige einer alten Buche auf einen Stein. Plauderten; machten Pläne. Komme einmal ein Schiff, das auf den Walfischfang segle, dann wollten sie beide mit. Und saßen sie so auf dem Stein, dann legte Manor seinen Arm um Hars Schultern und nannte ihn: »Min Jong« [69] , und dem Knaben war nicht wohler, als wenn Manor ihn so umschlungen hielt. War es schon spät, wenn er kam, dann ging er leise bis an den Fliederbusch, der Hars Fenster beschattete, und klopfte an die Scheiben. Har erwachte und stahl sich zu ihm hinaus. Fühlte sich so glücklich, konnte er bei Manor sein.
      
    II.

    Da kam ein dänischer Dreimaster, ankerte in Wagös sicherer Bucht, suchte Matrosen für eine Fahrt von zwei Monaten zum Walfischfang. Manor ging an Bord. Den schlank gewachsenen, jugendfrischen Burschen nahm der Kapitän sogleich an. Har wollte mit als Schiffsjunge. Lära aber sagte jammernd: »Bist mein einzig Kind! Deinen Vater verschlang mir die See. Du willst mich verlassen?« Har blieb. Manor ging. Das Schiff lichtete die Anker.
    Zwei Monate waren verflossen. Es ward schon winterlich. Har bestieg die Klippe, schaute in die Ferne, sah eines Morgens das Schiff kommen, schwenkte freudig das Tuch. Doch es war stürmisch; die Brandung ging hoch. Es steuerte auf die Bucht von Wagö zu. Konnte Wagö nicht erreichten, ward verschlagen in die gefährlichen Riffe von Strömö, strandete vor

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