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Lasst eure Kinder in Ruhe

Lasst eure Kinder in Ruhe

Titel: Lasst eure Kinder in Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Bergmann
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ihren Nervensträngen, ihren Muskulaturen und mit sich selbst als imaginierten Helden im Inneren dieser Geschichte. Auch auf diese Weise machen die Kleinen ganz intuitiv den wichtigen Schritt aus dem reinen abhängig-passiven Lauschen auf Laute hinaus
in ihre eigene Vorstellungswelt – aus der dann die Schriftbilder ganz allmählich und immer sicherer hervorgehen.
    Eltern sollten sich also klarmachen, je geduldiger, je gelassener, je ruhiger und wiederholter – möglichst immer im Großen und Ganzen um dieselbe Zeit – sie ihrem Kind vorlesen, desto verlässlicher entfalten sie nicht nur ihren »Spracherwerb«, sondern setzen die Grundmuster einer verinnerlichten, also tragfähigen Rechtschreibung. Das ist auch Lernen. Nur darf das Lernen nicht das erste Ziel sein. Sonst geht es schief.
    Das Lernen ist immer ein willkommenes Nebenprodukt. Es ist so wichtig, dass Mama, Papa, Großonkel oder sonst wer sich nicht von irgendwelchen Zielen treiben lassen, nicht von irgendwelchen Ratschlägen aus Prospekten des Bundesfamilienministeriums oder Ratgeberbüchern, nicht einmal aus den guten, sondern dass sie sich ganz treiben lassen von der Freude.
    Heute lese ich meinem Kind wieder die Geschichte vor, ich kann sie jetzt fast schon auswendig. Es ist ein Spaß, dem Kleinen dabei zuzusehen und seine Freude zu spüren, die mich selber freut. So hängt das zusammen, Laut und Lautinhalt, Schrift und Schriftsinn und Freude, Freude an der Bindung und an der Liebe untereinander. Ein anderes Lernen gibt es nicht.
    Eines meiner großen Vorbilder, Theodor W. Adorno, hat einmal dazu geschrieben: »Aus welchem anderen Grund sollte ein Gedächtnis sich erinnern als dem, die Liebe zu bewahren.« So einfach kann man es dann letztlich auch sagen.

    Eine kleine Zwischenbemerkung. Sie wirft ein bezeichnendes Licht auf die Gesellschaftskultur, in der wir von unseren Kindern Leistung erwarten und ständig von Leistung reden und Eltern ebenfalls unter Leistungszwang stehen. Ich rede von der Fußballweltmeisterschaft 2010. Michael Ballack, wie allseits bekannt, fiel verletzungsbedingt aus. Ein bis dahin weniger bekannter Spieler namens Sami Khedira trat an seine Stelle. Er machte seine Sache gut. Und nun schauen wir einmal genauer hin. Ballack war »Leistungsträger« (das ist schon diese martialische Leistungssprache, an die wir uns gewöhnt haben), sein Ausfall beschwor Katastrophen-Gemälde im Hinblick auf die kommende Weltmeisterschaft: Man muss erst gar nicht hinfahren, das wird ja alles nichts usw. Mit beneidenswerter Ruhe hat offensichtlich unter der Leitung des Bundestrainers eine junge Mannschaft zu einer ganz anderen Haltung gefunden. Ihre Haltung ist vorbildlich für viele Pädagogen und Eltern, die ein oder zwei Generationen älter sind als diese jungen Menschen.
    Die Mannschaft sagte, wir beißen uns durch. Leistung macht uns keine Angst, Leistung macht uns Spaß. Wir stürzen uns rein, wir gehen an die Grenzen, da werden wir mal sehen! Aber an welche Grenzen seines Körpers und seiner Talente geht man denn so bereitwillig? Nur an die Talente und darüber hinaus, in denen man sich ganz vertraut fühlt. Also nicht an solche, die einem »eingebimst« worden sind, die man mit Angst und bei Vergleichen mit anderen gelernt hat. Da hat man diesen Mut nicht.

    Mut hat man, wenn er aus dem Zentrum des eigenen Willens und der eigenen Begabung aufsteigt. Das war das eine.
    Nun will ich auf etwas anderes hinaus. In der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung vom 17. Juni 2010 las ich folgenden Satz: »Sami Khedira – ist er der bessere Ballack?« Das wirft die Frage auf, was unser Leistungsbegriff wert ist. Nix ist er wert, er hält keine drei Wochen. Da reicht eine Leistung, und ein ganzes anderes Lebenswerk wirkt wie abgeschaltet.
    Ballack wurde in Vergleich gesetzt und machte einen schlechten Eindruck. Warum? Weil Ballack der schwächere Spieler war? Nein, natürlich nicht. Ballack wäre immer noch der stärkere Spieler, er wäre immer noch der Bessere auf diesem Platz gewesen. Khedira wäre der Erste gewesen, der dies zugegeben hätte. Aber die öffentliche Wahrnehmung, hier durch eine Zeitung formuliert, wollte gleich das »ganz andere«. Wollte die »neue« Leistung, die vielleicht noch fixere, beweglichere, schnellere, die abrupte, die Leistung als News.
    Unser Leistungsbegriff ist nicht einmal so dauerhaft, dass er ein halbes Jahr lang trägt. Er bezeichnet ein Leistungs event . Und so schubsen wir oft auch unsere Kinder – ohne es zu

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