Lasst eure Kinder in Ruhe
würden: Mit der mechanischen, genormten Methodik gelingt es nie.
Ganz nebenbei: Auch deswegen nicht, weil die großen Namen, die Klassiker der Pädagogik und Entwicklungspsychologie, auf die sich die bilingualen Kindertagesstätten »Little Giants« beispielsweise auf ihrer Webseite
beziehen, als seien all diese großen Geister gleichsam beratend zur Seite, in der Praxis dieser Förderung überhaupt keine Rolle spielen.
Ich gehe davon aus, dass die Geschäftsführer dieser Einrichtungen und viele der dort unterrichtenden Pädagogen nie eine eindringliche Lektüre von Erik H. Erikson oder vergleichbaren Entwicklungspsychologen hinter sich gebracht haben. Ist das viel »So tun als ob«-Betrug? Nun, das wohl nicht, eher sind es Taschenspielertricks. Auf Kosten der Kinder.
Mama liest mir vor, das ist wie ein Geschenk. Das ist das erste Gefühl, das ein Kind in sich sammelt, wenn es auf Mamas Gesicht schaut oder sich zur Wand dreht, um in seiner Konzentration ganz und gar nicht abgelenkt zu werden. Und zuhört. Das ist Bindung, Bindung durch Sprache und Gewohnheit.
Das Zweite ist Mamas Stimme. Alle Worte, die jetzt ertönen werden, sind eingefärbt in die Sprache der Mutter (oder des Vaters oder des Onkels). Nun gleitet gleichsam über diese Sprachlaute hinweg der Inhalt der Geschichte. Meist ist er bereits bekannt, also vertraut. Da warten keine unerwarteten Ereignisse, keine Schrecken, keine Abstürze.
Die bekannte Geschichte, die ein Kind oft in bemerkenswerter Weise auswendig gelernt hat und innerlich mitspricht, macht jedes Wort zu einem zutiefst bekannten, zu einem eigenen Wort, macht jeden Laut zu einem eigenen Laut, macht diese Zusammenfügung der Worte mit Laut und Sinn in ihrer Gesamtheit erst ganz und gar verständlich.
Wir sehen schon, wenn wir diesen Vorgang nur umschreiben, wie kompliziert er ist. Und wie klein ist dieses Gehirn, wie schnell überfordert. Also lassen wir uns Zeit mit allem.
Geduld. Werden wir nicht nervös, weil Kinder auf Wiederholung und Wiederholung drängen. Manche Eltern meinen leider, das Kleine müsste nun aber neue Informationen, neue Gedanken erfassen, Neues lernen, es muss doch vorangehen, es müssen doch neue Erkenntnisse her. Alles falsch.
Erkenntnisse sammelt man über das Vertraute und die richtige Überschreiung des Vertrauten in dem Moment, in dem es ganz zum eigenen Wissen und Willen geworden ist. Bevor das, was ein Kind jetzt aufnimmt, nicht ganz und gar abgestützt ist durch dieses geschilderte, vielfältige Vertrauen und bevor es nicht zum Eigenen geworden ist, wird jedes Weitergehende nichts anderes erzeugen als ein Auslöschen des vorher Aufgenommenen. Ein Verlieren des Gewussten und Gelernten.
Und nun schauen wir, wie sich aus diesen verinnerlichten Worten auch erste Schriftbilder entfalten. Ich habe am Beispiel des Wassers dargestellt, dass bei vielen Kindern beim wiederholten Laut dieses Wortes und der Erinnerung an einen springenden Brunnen vielleicht im Urlaub oder anderswo auch das Wortbild auftaucht. Das große »W« vielleicht, die beiden »s« in der Mitte, die so fröhlich spritzen, wenn man sie ganz laut heraustönt. Durch die Vergegenwärtigung des Lautes, auch das Spielen mit dem Laut (Eltern sollten dazu ermutigen), gewinnt das Kind über die Lautbedeutung
eine Schriftbildbedeutung. Das ist ein fließender Übergang.
Nur: Jetzt tauchen aus Konzentration und Wahrnehmungsdichte durch Bindung, Vertrautheit und Angstfreiheit immer mehr Schriftbilder in die Welt des Kindes ein. Das Kind spielt jetzt auch mit Schriftzeichen und purzelt vergnügt zu Klängen, die es selber hervorbrummelt oder kreischt, und dann wieder Buchstaben – das ist ein wildes Buchstaben- und Ich-kann-Töne-erzeugen-Spiel.
Beobachten Sie Ihr Kind einmal, wenn Sie ihm lange vorgelesen oder mit ihm Schriftbilder angeschaut haben. Es fantasiert. Und zwar so, dass es all das, was ich jetzt hier ellenlang aufgezählt habe, wild durcheinanderpurzeln lässt, es gackert und bruzzelt, malt vielleicht zwischendurch Buchstabenähnliches auf das Papier, alles vermengt. Jetzt lernt es. Für sein ganzes Leben (und nicht nur für das Rivalisieren mit dem Nachbarskind, das immer noch beim D ist und nicht schon beim M).
Nebenbei bemerkt: Kinder lernen erste Schriftbilder über die Lautsprache, das sagt auch die Grundschuldidaktik. Das ist richtig. Sie vergisst aber, dass Kinder auch Wortbilder über die Spannung erwerben, mit der sie eine Geschichte verfolgen, und mit ihrem ganzen Körper,
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