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Lasst eure Kinder in Ruhe

Lasst eure Kinder in Ruhe

Titel: Lasst eure Kinder in Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Bergmann
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merken, ohne es zu wollen – von einem Leistungsevent zu einem anderen.
    »Schau mal, jetzt schreibst du schon das Nomen groß, ist das nicht toll?« Der kleine Daniel hat keine Ahnung, was ein Nomen ist. Mama erklärt es geduldig und dann weiß er es immer noch nicht. Im Übrigen ist es ihm egal. Mama aber konzentriert sich auf das Event, darüber vergleicht
sie Daniels Leistung mit der anderer. Und spürt gar nicht, wie sehr sie seine ganz besondere, kleine persönliche Leistung dabei entwertet. Und die Bindung seines Leistung-Wollens mit der Bindung an Mama auch gleich. Ist das wirklich so schwer zu begreifen?

    Förderung – eine Stippvisite, oder: Hände weg von meinem Spiel
    WIR STELLEN UNS DEN FÖRDERUNTERRICHT gern so vor, wie er in den Kinderbilderbüchern steht. Da sitzen brave Kinder um eine Erzieherin, alle schauen mit gespannter Aufmerksamkeit auf kleine Schildchen und Buchstaben. Sie hocken herum, manche lachen, manche quengeln und die Erzieherin bemüht sich, mit allerlei schlauen professionellen pädagogischen Tricks die Aufmerksamkeit der Kinder aufrechtzuerhalten. Dieses Bild ist eine Art Stillleben, das der Wirklichkeit in den allermeisten Kindergärten nicht entspricht, an ganz normalen Tagen nicht und beim Förderunterricht erst recht nicht. Meist ist es ganz anders.
    Ich bin in einem ganz normalen christlichen Kindergarten. Aber der scharfe Atem des »Fördern, Fördern!« hat auch diesen Kindergarten, der gar kein Garten mehr ist und sich auch nicht darum bemüht, erreicht. Ich sitze auf einem Stuhl, spreche mit der einen oder anderen Erzieherin, vor allem aber schweige ich und schaue. Einen ganzen sechsstündigen Tag lang entdecke ich nicht einen Vorteil der verplanten Fördermaßnahmen gegenüber dem offenen Spiel und der freien Kommunikation der Kinder. Nicht einen! Gewiss, man muss die Kleinen in ihren ganz eigenen Tätigkeiten immer auch begleiten,
beschützen, manchmal zurückführen auf das, was sie begonnen haben und voreilig aufzugeben scheinen. Das alles ist im Sinn guter Kindergarten-Pädagogik. Nicht gut ist ganz einfach dies: die Kinder von ihrer individuellen oder gemeinsamen Tätigkeit wegzuführen – manchmal wegzureißen (vgl. Kapitel »Vanessa und das kaputte Spiel«), um sie einem den Kindern fremden Lernzweck zuzuführen.
    Das dürfen wir jetzt als Prinzip formulieren: Hände weg von allem, was sich nicht organisch aus der jeweils aktuellen Erfahrungswelt der Kinder entfalten lässt. Das gilt für die Fünfjährigen und für die Zweieinhalbjährigen erst recht.
    Meist ist es so, dass eine kleine Gruppe in einer Ecke hockt – was spielen die gerade? Offensichtlich sind sie ganz vertieft in ihr Spiel, sie schubsen sich ein wenig hin und her – ungefähr zweieinhalb bis dreieinhalb Jahre sind sie alt. Eine Erzieherin steht einige Meter von ihnen entfernt und schaut ihnen zu. Es ist ein für kleine Kinder ruhiges Spiel, offensichtlich konzentrieren sie sich auf irgendwelche Zeichen. Ich trete einige Schritte näher und erkenne, dass sie in der Mitte tatsächlich ein großes Stück Papier liegen haben und eifrig darauf rumkritzeln.
    Ihre Kritzelei ist mir so unverständlich wie Kisuaheli , aber den Kindern bedeutet sie etwas. Das merkt man. Offensichtlich »kommunizieren« sie miteinander, haben auch viel Spaß dabei. (»Kommunizieren« ist ein Lieblingswort von Pädagogen, dabei wissen wir gar nicht ganz genau, wie Kinder in diesem Alter sich verständigen, jedenfalls nicht wie wir Erwachsenen, nicht nach
Gesprächsregeln und dergleichen.) Manchmal streiten sie sich, dann haut einer dem anderen voll – patsch! – auf den Arm, der fängt an zu heulen, laut wie eine Sirene, und verstummt im selben Augenblick wieder. Das große Stück Papier in der Mitte der Gruppe ist doch viel interessanter, die anderen Kinder sind auch viel interessanter als die egoistische Jammerei.
    So geht es vergnügt vor sich hin und könnte noch eine ganze lange Weile so weitergehen. Was alles die Kinder dabei »lernen« würden in einem pädagogischerwachsenen Sinn, kann man sich nur ausmalen. Konzentration beispielsweise, soziales Miteinander, Aufmerksamkeit auf die Zeichen und Signale eines anderen und auf sich selber, die Vermittlung von innen und außen usw.
    Alles üben diese Kleinen, aber abrupt ist Schluss mit dem vergnüglichen freien Spiel. Jetzt wird gefördert! Eine Erzieherin klatscht in die Hände. Offensichtlich haben sie ein Losungswort für ihren »Förderunterricht«, sie ruft es,

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