Lasst eure Kinder in Ruhe
ich habe es nicht verstanden. Neben ihr steht eine andere Erzieherin, sie ist von der Gruppe der Kinder jetzt zu ihrer Kollegin herübergegangen. Alle Kinder aus dem Gruppenraum sollen sich in einem großen Kreis versammeln.
Aber stellen wir uns doch nicht vor, dass die Kleinen nun unbekümmert von ihrer »Arbeit« – was anderes ist ihr Spiel denn als Arbeit? – aufspringen und zum vergnügten Förderunterricht eilen. Keine Spur davon. Meine kleine Gruppe beispielsweise will unbedingt beieinanderbleiben. Die Kinder sind »mittendrin«, mittendrin
im Kommunizieren, in der Selbsterfahrung, in der Weltbegreifung (wenn es das Wort denn gäbe). Darin müssen sie jetzt unbedingt gestört werden? Warum eigentlich?
Unweigerlich ist jetzt der Moment gekommen, an dem die Pädagogen die Anstrengung unternehmen müssen, die Kinder zu »motivieren«. Zu ihrer eigenen kindlichkommunizierenden Tätigkeit hätte man sie nicht motivieren müssen, sie waren ja schon mittendrin. Voller Eifer, voller Konzentration, bis in die Haarspitzen konzentriert.
Aber der Plan ist in diesen Fördereinrichtungen eben wichtiger als das Leben. Das ist der entscheidende Fehler.
In einer Ecke spielt ein Kind mit sich allein das »Fort-Da«-Spiel. Das ist ein uraltes Kinderspiel, das Kleinkinder gern mit ihren Müttern spielen. Sie halten sich ein Blatt oder die Hände vors Gesicht und gehen davon aus: »Wenn ich Mama nicht mehr sehe, sieht Mama mich auch nicht. Ich verdecke mein Gesicht, jetzt bin ich weg. Ich nehme die Verdeckung weg, jetzt bin ich wieder da.« Das ist ein ungeheures, geradezu metaphysisches Abenteuer für ein Kind.
Der nächste Schritt seiner Entwicklung wird sein, dass es versteht, dass es immer da ist. Ob es sich versteckt oder nicht, es kann nicht aufhören »da« zu sein. Das ist zum einen eine sehr befremdliche Erfahrung, man kommt ja nicht weg! Auf der anderen Seite ist es eine beruhigende Erfahrung. Wenn ich nie weg sein kann, dann
können auch Mama und Papa nie ganz weg sein. Das ist die Urerfahrung, ohne die Kinder seelisch völlig aufgeschmissen wären.
Aber sie machen diese Erfahrung ja, sofern sie gute Eltern haben, die sie nicht überehrgeizig in irgendwelche Förderunterrichte stecken. »Mama ist ja da, Opa ist ja da, Papa ist ja da oder die Tante, ich bin ganz sicher.« Auf diesem Hintergrund machen die Kinder die Erfahrung mit der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit des eigenen Körpers.
Und das ist schon wieder so ein kompliziertes Ding. Denn der Körper ist sichtbar, obwohl das Kleine selber den anderen Körper mit den Händen oder dem Papier vor Augen ja gar nicht sehen kann. Nun hat es gerade gelernt, dass man sich anschaut, also: »Ich sehe dich und du siehst mich« – und nun wird alles schon wieder viel umständlicher: »Ich sehe dich gar nicht, du siehst mich aber trotzdem.« Spüren wir, wie rätselhaft und befremdlich das ist, was wir Erwachsene wie eine Selbstverständlichkeit in unsere Selbstwahrnehmung eingerichtet haben – aber nichts ist selbstverständlich, es ist wie ein großes Geheimnis.
Ich will damit abbrechen und mit diesem kleinen Beispiel nur einen Fingerzeig geben, in welch höchst individuellen, ganz in sich versunkenen und konzentrierten Lernvorgängen solch ein Kind gefangen ist.
Es spielt also dieses »Fort-Da«-Spiel, ganz für sich. Das geht nicht so gut, zu zweit ist es besser, aber in der Not frisst der Teufel Fliegen. Man kann auch allein spielen, das Gegenüber wird dann eben fantasiert. Damit dringt
noch eine Imaginationsebene in dies ohnehin komplizierte Spiel ein.
Und nun? Was passiert jetzt? Händeklatschen der Erzieherinnen! Alle zum Förderunterricht.
Wie kümmerlich das ist!
Das Kind will nicht, natürlich will es nicht, das ist sein gutes Recht. Es ist ja in eine der schwierigsten seelischsinnlichen Arbeiten eingebunden: ein inneres stabiles Selbstbild zu entfalten. Etwas Komplexeres gibt es unter der Sonne gar nicht. Und nun wird es rüde dabei unterbrochen.
Die Folge? Na, was schon? Wieder eines dieser Rituale, die wir im Umgang von Pädagogen mit Kindern bis zum Überdruss kennen. Die Pädagogen versuchen das Kind zu Dingen zu verleiten, die seinem inneren Ziel nicht entsprechen. Das erzeugt Widerstand, mal großen, mal kleinen. Mal Geschrei und dann seufzen die Pädagogen, mal Nachgiebigkeit und dann denken sie, sie haben es mit einem vernünftigen Kind zu tun. Möglicherweise haben sie es mit einem viel zu nachgiebigen Kind zu tun. Oder möglicherweise
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