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Lasst eure Kinder in Ruhe

Lasst eure Kinder in Ruhe

Titel: Lasst eure Kinder in Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Bergmann
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mit einem, das gar nicht richtig in sein Spiel vertieft war, weil es vor so vielen Ablenkungen und Unterbrechungen schon gar nicht mehr in der Lage ist, sich auf ein einziges Spiel ganz einzulassen.
    Die Kleine mault. Recht hat sie. Ich erkenne erst jetzt, dass es ein Mädchen ist – so groß der Unterschied bei Jungen und Mädchen auch von Anfang an ist, in manchen Selbstentdeckungsphasen sind sie eins wie das andere. Diese Kleine also hebt den Kopf, schaut leicht verstört zu der Gruppe mit der Erzieherin herüber, die
schon wieder in die Hände klatscht, und hält sich das Stück Papier vor die Nase. »Daaaa«, lacht sie. Sie erfährt gerade die Freude des Daseins, des Wiederkommens, nachdem sie ja in ihrer eigenen Imagination soeben noch verschwunden war. Freud hat dieses Wort »Fort-Da-Spiel« zum ersten Mal beobachtet bei einem vierjährigen Jungen. Er hat es klug interpretiert und gezeigt, wie sehr dieses Imaginationsspiel Einübung in die Körperlichkeit und die Selbstentdeckung des Körpers ist. Kompliziert, wie die seelisch-geistigen Fortschritte eben sind.
    Aber nun wird diese Vollständigkeit des Begreifens und Fühlens unterbrochen zum Zweck der Förderung, die sich im Vergleich dazu schlicht banal ausnimmt.
    Die zweite Erzieherin bewegt sich auf das Kind zu. Sie will es abholen, nett gemeint, das wirkt aber auf die Kleine wie eine Bedrohung – und ist es ja auch. Die Erzieherin ist stärker, sie kann sie wegzerren. Das Spiel ist vorbei. Und es war so ein frohes Selbstentdeckungsspiel! Sie war gerade mittendrin!
    Die Erzieherin greift nach der Hand, selbstverständlich entzieht das Kind ihr die Hand, hält sie hinter den Rücken. Und jetzt sind wir kurz vor einem dieser äußerst unerfreulichen Vorgänge, die wir in jedem Kindergarten und auch zwischen Eltern und Kindern immer wieder beobachten können. Wir sind ganz nah an der körperlichen Auseinandersetzung.
    Die Erzieherin versucht die Hand des Mädchens zu greifen, das kreischt auf und lässt sich auf den Boden fallen. Und nun? Haben wir hier ein verstörtes Kind, erste
Ansätze von ADHS oder sonst einen Blödsinn? Nichts davon, wir haben einfach nur schlechte Pädagogik.
    Ich wende mich ab, ich kann diese ewigen Missverständnisse, die zu weinenden Kindern führen, einfach nicht mehr sehen. Ich bin im Laufe meiner pädagogischen Tätigkeiten, Beobachtungen und Praxis müde geworden. Immer dieselbe Verständnisarmut, immer dasselbe hartnäckige Belehren und Dirigieren und die Besserwisserei der Erwachsenen.
    Eine andere Ecke, zwei kleine Jungen, sie wirken etwas älter, knapp vier Jahre alt, rasen hintereinander her. Sie spielen Fangen und Verstecken, einer krabbelt unter den Tisch, der andere krabbelt hinterher, es ist natürlich ein Höllenlärm, aber ein lustiger.
    Beide sind nicht aggressiv, beide streiten sich nicht. Sie spielen Fangen, wie wir es in unserer Kindheit auch gespielt haben. Wir spielten allerdings auf einem alten Kirchenhof, einer grasüberwachsenen Umrandung neben der großen, stolzen gotischen Kirche mitten in einem kleinen Dorf, vier gewaltige, uralte Bäume dazwischen. Dort konnten wir uns verstecken nach Herzenslust und keiner kam, um uns zu motivieren oder zu fördern. Gott, war das eine Kindheit!
    Die beiden haben nicht so viel Glück. Eine Erzieherin, inzwischen ungeduldig geworden, beugt sich unter den Tisch und zerrt einen Knaben hervor. Was passiert? Na, was wohl: Geschrei. Und zwar richtiges, wütendes, aggressives Geschrei diesmal. Jetzt haben sie mit ihrer Förderei das soziale Klima endgültig zerstört. Der andere Junge steht betroffen daneben, er weiß sich neben der
Autorität der Erzieherin und dem Mitgefühl für seinen Spielkameraden nicht zu verhalten. Er ist verwirrt. Was fördert das in ihm?
    Ich breche die Schilderung ab, sie wiederholt sich in gleicher Form in allen Ecken und Enden, und nicht nur an diesem Tag, sondern am nächsten Tag und am übernächsten Tag und am Tag darauf wieder. Es ist der helle Aberwitz. Statt aus den Spielen, die die kleinen Kindergruppen entfalten, ihrer Intensität, ihrem Willen und ihrer Konzentration freie, kreative Spiele zu entwickeln, für jede Kleingruppe ein anderes (das macht Spaß auch für Erzieherinnen), werden sie zu einem einheitlichen Plan gezerrt. Von Motivieren ist jetzt schon gar nicht mehr die Rede, das erkennt man an den erschöpften und seufzenden Gesichtern der Erzieherinnen. Sie sind einfach überfordert.
    Aber sie sind nicht oder nur zum Teil von den

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