Lasst eure Kinder in Ruhe
Kindern überfordert, auch nicht von den verwöhnten modernen Kindern. Sie sind überfordert von einer seelenlosen Lernbürokratie. Nun hocken sie also endlich alle im Kreis, zwei noch mit verheultem Gesicht, die Erzieherin versucht das »Munter«-Spiel. Klatscht wieder in die Hände, alle klatschen mit. Das ist ein vernünftiger Trick, die Pädagogen ebenso wie Showstars beherrschen. Wenn alles schiefgeht, macht man irgendetwas mit Mitklatschen. Das gibt ein Gemeinschaftsgefühl, und Kinder, wie alle Menschen, lieben Gemeinschaft. Die allermeisten klatschen auch, beinahe im Rhythmus, bis auf zwei, die unentwegt trotzig-hilflos die Hände hängen lassen.
Und nun schauen wir uns um, ein Ball kullert in die
Mitte, natürlich greift das eine Kind danach, ein Buchstabe steht auf dem Ball. Es geht aber gar nicht um den Ball, es geht um den albernen Buchstaben. Ich glaube, es ist ein »M«. Alle rufen »M«. Eines oder zwei der Kinder lachen sogar. Also doch alles in Ordnung, es ist ja ein moderner Förderunterricht! Alles ganz spielerisch? Ach was, es ist eine pädagogische Bankrotterklärung, die Planung für wichtig und den Einfallsreichtum und das Spiel der Kinder im Vergleich damit für minder bedeutsam hält.
Ist uns eigentlich einmal aufgefallen, wie unbedacht wir in Bildungsinstitutionen davon sprechen, dass wir dort »die Kinder auf das Leben vorbereiten«? Ja, was soll das denn heißen? Leben sie etwa noch nicht? Nicht hier, direkt vor unseren Augen, wo sie spielen und lachen? Und wir haben immer nur »Vorbereitung« im Sinn, also das Hinzielen auf andere Zwecke jenseits der Körperlichkeit, der Gegenwart, der belustigenden und belebenden Wirklichkeit unserer Kinder. Sind wir denn von Sinnen? Wenn wir wieder und wieder nur so denken, in »Vorbereitungen«, dann entgeht uns natürlich das Wichtigste. Uns entgeht das schlaue Funkeln ihrer Augen, uns entgehen die freundlichen Grimassen, die sie hinter unserem Rücken schneiden und die gar nicht bös gemeint sind, uns entgeht ihre Trauer und ihre Fröhlichkeit. Uns entgehen unsere Kinder.
Vanessa und das kaputte Spiel
ANGESICHTS VON MISSBRAUCHSFÄLLEN in Kindergärten (von denen sich hinterher nicht wenige als Irrtümer herausstellten) forderte ein Kriminalsoziologe, die Kindergärten müssten so übersichtlich sein, dass es nirgendwo versteckte Ecken, Höhlen und unüberschaubare Bereiche geben dürfe. Dies ist wieder – im vielleicht wohlgemeinten Übereifer gesprochen – ein Ausdruck der völligen Seelenleere, die wir dem empfindsamen Leben unserer Kinder entgegenbringen.
Nein, sie brauchen Verstecke, das Sich-Verbergen, sie brauchen die Höhlen, die vielleicht an den Mutterleib erinnern, die in jedem Fall eine Art biotische Geborgenheit darstellen. Sie benötigen sie. Ein Soziologe kann das nicht wissen.
Vielleicht sollten wir, Eltern, Pädagogen, Fachpublizisten, es aber wenigstens wissen?! Jedenfalls ging die Botschaft quer durch die Medien, und vielleicht haben sich manche Kindergärten tatsächlich daran gehalten. Das wäre ein Jammer. Und damit kommen wir zu einer Dreijährigen, vielleicht ist sie auch dreieinhalb, auf die mein Blick jetzt fällt. Ich nenne sie Vanessa.
Vanessa hockt fast allein in einer Ecke, von den Erzieherinnen ist sie nur schwer zu sehen, die müssten einmal zur Seite treten und dann um die Ecke lugen. Aber das tun sie nicht, Gott sei Dank.
Vanessa spielt mit einem Stück Papier, gut einen Meter
von ihr entfernt hockt eine etwa zweieinhalbjährige stille Bewunderin. Diese Kleine rührt sich kaum vom Fleck, schaut nur hingerissen auf das, was Vanessa an Kunststückchen zusammenbringt. Die beiden haben eine richtig gute Zeit miteinander.
Vanessa hält das Papierstückchen, etwa einen DIN-A4-Bogen, in der Hand, knallt es und wirft es in die Luft. Dann versucht sie es aufzufangen, das gelingt natürlich nicht. Weil dieses Papier nicht gerade wie ein Stein runterfällt (schon wieder: Gott sei Dank!), sondern hin und her wackelt, muss Vanessa regelrecht wie Oliver Kahn in seinen besten Jahren danach hechten.
Einmal gelingt es ihr, ein quietschender Freudenschrei.
Die kleine Bewunderin klatscht vor Freude in die Hände.
Vanessas Triumph ist auch ihr Triumph. Eine innige Kommunikation zwischen den beiden, wenn wir bei Kindern dieses Alters das abstrakte und allgemeine Wort »Kommunikation« überhaupt benutzen wollen, dieses sperrige ungenügende Wort.
Vanessa entdeckt jetzt ein Spiel, das so strukturiert ist, dass uns als
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