Lasst eure Kinder in Ruhe
erwachsenen Zuschauern vor so viel Einfallsreichtum und Klugheit schier die Ohren flattern. Vanessa macht nämlich Folgendes: Sie wirft das geknüllte Papier noch einmal in die Luft, verfolgt seine Linie, dann streicht sie das Papier glatt und zeichnet mit einem dicken Bleistift die Luftbewegungen nach. Natürlich nicht genau, vielleicht nicht einmal ungefähr. Aber ihre Intention ist ganz klar, sie will die Luftbewegungen aufzeichnen.
Eine merkwürdige Verbindung von Spiel, Körperbewegung und geradezu technischem Verstehen und Darstellen.
Und noch einmal von vorn: Der geknüllte Ball, er wird in die Luft befördert, er flattert zurück, Vanessa greift ihn auf, streicht das Papier mit unendlicher Geduld wieder glatt (so viel Konzentration erfährt ein Kind in keinem Konzentrationstraining, das den Kleinen heutzutage aufgezwungen wird, meist völlig sinnlos) und schließt kurz die Augen, erinnert sich an die Luftlinien mehr oder weniger und zeichnet sie mehr oder weniger genau nach.
Die kleine Beobachterin erstarrt vor Bewunderung. So etwas hat sie überhaupt noch nie gesehen. Dass es die Dinge gibt und dass man sie dann aufzeigen kann, das ist ja schon eine wahnwitzige Tatsache. Aber dass sie sich bewegen und sogar die Bewegungen aufgezeichnet werden können, obwohl die Bewegung dann ja vorbei ist und nie, nie wiederholt werden kann, das ist der helle Wahnsinn. Die Zweieinhalbjährige ist zutiefst beeindruckt.
Ich wünschte, ich würde lesen können, was für ein großartiger philosophischer Gedanke durch ihren Kopf marschiert. Gedanke? Nun ja, es sind wohl mehr Bilder, kleine eilige Bilder, kleine Nachzeichnungen des Gesehenen und Geschehenen, innere Bilder eben, aus denen alles Seelenleben hervorgeht.
Sprechen tun die beiden übrigens überhaupt nicht, weder miteinander noch mit sich selbst. Sie quietschen nur, quieken, lachen oder sagen auch mal verärgert »ba«.
» Nun kommt die Mutter, kommt und reißt mich ein . . . « Nur ist es diesmal keine Mutter, sondern eine Erzieherin. Sie ruft zum Förderunterricht! Exklusiv und exzellent soll alles sein. Herr im Himmel, haben wir alle Sinne noch beieinander?
Was war denn exzellenter als Vanessas ingenieurähnliche Nachzeichnung von Flugbewegungen, was war denn bildungsträchtiger als ihr raffiniertes Auffangspiel, ihr Knüllen und wieder Entblättern, wieder Knüllen und alls ganz von vorn, was war denn konzentrierter und förderlicher? Das einzige Problem besteht darin, dass Vanessa nun wieder in die Gemeinschaft aller Kinder reingeholt werden muss, auf Biegen und Brechen.
Die Erzieherin ist daran gar nicht schuld, sie muss die Kinder zu einheitlichen Tätigkeiten anstiften, wie soll sie denn sonst Fortschritte und Rückschritte dokumentieren, woher sollen denn sonst die Vergleiche kommen? Nein, die Erzieherin ist nicht schuld, das Prinzip ist es. Es ist falsch.
Auf das Dazwischentreten der Erzieherin reagiert Vanessa verständnislos. Recht hat das Kind. Was sollte sie denn auch verstehen? Dass sie das, was sie jetzt mit viel Freude und wahrscheinlich ein bisschen Eitelkeit vor ihrer ein Jahr jüngeren Bewunderin so innig gespielt hatte, aufgeben soll, um irgendetwas ganz Ähnliches mit allen anderen Kindern (wo bleibt denn da die kleine Eitelkeit, der kleine Kinderstolz?) zu wiederholen?
Dafür soll man Verständnis aufbringen? Das kann doch gar kein Mensch verstehen, weil es unverständlich ist. Blödsinnig ist es, um genau zu sein.
Vanessa ist kein trotziges Kind, sie ist gehorsam. Abgesehen von ihrem verständnislosen Blick greift sie stumm die Hand der Erzieherin, die sie in den Förderkreis der anderen hineinzieht. Mir kommt es so vor (aber das ist sicher eine Einbildung), als würde sie heimlich den Kopf schütteln.
Die beiden gehen langsam, die Erzieherin keineswegs unfreundlich, sondern mit einschmeichelnder Stimme, auf den Kreis der anderen zu. Dort wird schon nach Kräften »gefördert«. Und so könnte zumindest, abgesehen von dem bedauerlichen Abbruch eines ungemein klugen Spieles, alles noch in Frieden und Eintracht enden. Tut es aber nicht.
Es ist vielmehr so, dass die kleine zweieinhalbjährige Bewunderin plötzlich anfängt zu kreischen, so laut und durchdringend, dass der halbe Kindergarten erschrickt. Es zuckt regelrecht durch die relative Stille dieses Vormittags, wie ein Tongewitter.
Die Kleine brüllt und brüllt, eine Erzieherin eilt zu ihr, nimmt sie in den Arm, aber das Kind ist nicht zu beruhigen. Warum? Auch sie ist um ein
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