Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
Wichtig.« Das ist die Botschaft, die unser Gehirn empfängt und auf die es reagiert. Abschalten wird da manchmal fast unmöglich, in einem doppelten Sinne. So wenig, wie wir es schaffen, die elektronischen Geräte abzuschalten, so wenig schaffen wir es, vom Stress abzuschalten und zur Ruhe zu kommen.
Entstanden ist damit ein gefühlter Zwang zur permanenten Erreichbarkeit. Die technischen Mittel dafür sind nur das Vehikel für eine Erwartungshaltung, die Freunde, Bekannte, Kollegen, Chefs und sogar völlig Fremde an uns haben. Das eMail-fähige Handy, das mit dem Firmenaccount synchronisiert ist (und vermutlich auch noch von der Firma gestellt wird), hat zur Abschaffung des klassischen Wochenendes geführt, an dem Papa und Mama den Kindern oder die Lebenspartner einander gehörten. Ein Teil bleibt nun
immer auf Empfang, ständig in der Furcht, dem Chef könnte just am Samstagnachmittag zur besten Bundesliga-Zeit ein entscheidender Gedanke zum aktuellen Projekt kommen, natürlich verbunden mit einer entsprechenden Anweisung.
Dass das Ganze noch nicht das Ende der Fahnenstange erreicht hat, zeigen sogenannte Lokalisierungsdienste im Internet. Egal, ob »gowalla«, »foursquare« oder »Facebook Places«: Nutzt der User diese Dienste, ist er nicht nur ständig erreichbar, sondern seine Netz-»Freunde« wissen auch noch ständig, wo er sich gerade aufhält. Natürlich ist auch hier niemand gezwungen, diese Dienste zu nutzen bzw. seine Daten zur Verfügung zu stellen. Aber es ist ja auch niemand gezwungen, sein Handy und seinen Laptop angeschaltet zu haben.
Wer sich im Urlaub in ganz typischen Urlaubsgebieten mal bewusst in Cafés umschaut, wird dort immer mehrere Gäste mit Laptop auf dem schmalen Tisch sehen, routiniert verhindernd, dass der zur Entspannung gedachte Latte Macchiato auf die Tastatur kippt. Und am Handy spielen mit Sicherheit deutlich mehr als die Hälfte der Cafébesucher herum. Beispielsweise, um Fotos zu schießen, die man dann natürlich sofort bei Facebook hochlädt, um zu beweisen, dass man wirklich an diesem Ort im Urlaub ist.
Fast anachronistisch wirken da beispielsweise für den Wien-Besucher die in vielen Kaffeehäusern aufgehängten Handy-Verbotsschilder. Niemand hält sich dran, doch kommt hier der Ursprungsgedanke des Wiener Kaffeehauses wieder zum Vorschein. »Allein sein unter lauter Leuten« könne man dort, so beschrieb es einst Alfred Polgar. Mit dem Handy und dem Laptop auf Dauerempfang ist niemand
mehr allein. Die Welt, die einen früher mal gernhaben konnte, wenn man in die Zeitung vertieft an der Melange schlürfte, ist nun immer in der Hosentasche und kann sich jederzeit melden, um etwas scheinbar Wichtiges zu erzählen.
Kein Wochenende, kein Feierabend, kein Urlaub. Körper und Geist sind »on«, bis einer von beiden aufgibt. »Burn-out« nennt man das dann; was lange Zeit nur bei hochbezahlten und dauergestressten Managern angesiedelt schien, hat sich mittlerweile als Phänomen in allen Gesellschaftsschichten breitgemacht.
Die Zahl der Krankschreibungen, die als Ursache Burn-out anführen, ist in den letzten Jahren um ca. 20 Prozent gestiegen, quer durch alle Branchen und Ebenen innerhalb der Betriebe. Einer Studie der Internationalen Arbeitsorganisation IAO zufolge litten bereits im Jahr 2000 ca. zehn Prozent aller Arbeitnehmer an Burn-out-Symptomen. Das führe, so die Studie weiter, u. a. auch zu Gesundheits-Mehrausgaben innerhalb der EU von bis zu vier Prozent. Mit zweieinhalb Milliarden Euro wird die Summe angegeben, die alleine der deutschen Wirtschaft durch entsprechende Erkrankungen ihrer Mitarbeiter verloren gehe. Solche Zahlen mögen eine Ahnung davon geben, welche Dimension das Problem in allen Bereichen mittlerweile angenommen hat.
Entscheiden Sie sich JETZT – Wenn aus Freiheit Zwang wird
Bereits in »Warum unsere Kinder Tyrannen werden« hatte ich ein Beispiel für die mitunter groteske Weise angeführt, in der uns heute ein Entscheidungszwang aufgenötigt wird. Es ging dabei um den Unterschied zwischen dem Mieten eines Telefons und dem Anschließen der Leitung in früheren Zeiten und den unendlichen Möglichkeiten auf dem Telekommunikationsmarkt heute. Dieses Beispiel löst bis heute bei Lesungen und Veranstaltungen spürbare Zustimmung und Erheiterung aus, weil sich jeder sofort wiedererkennt.
Wir sprechen von »Entscheidungsfreiheit« als etwas Positivem. Und setzen Zwang als Gegensatz dazu. Das ist richtig so, birgt aber auch die Gefahr in sich, dass
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