Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
silberfarbene Autos auf unseren Straßen fahren, nämlich, weil die Käufer an dieser Auswahl verzweifeln und auf die bewährten Kombinationen zurückgreifen.
Ein weiteres gutes Beispiel sind Digitalkameras. Die Anzahl der auf dem Markt befindlichen verschiedenen Modelle scheint unendlich. Die Unterschiede indes sind nicht nur marginal, sondern letztlich für fotografische Laien, und das dürften die meisten von uns sein, kaum von Bedeutung. Mehr als etwa zehn verschiedene Funktionen wird der normale Kamera-Benutzer niemals verwenden, und exakt diese zehn Funktionen bieten mit Sicherheit 99 Prozent aller auf dem Markt befindlichen Geräte. Was nichts anderes heißt, als dass die 45 weiteren Funktionen, die manche Kameras bieten oder eben nicht bieten, für mich eigentlich vollkommen unerheblich sind. Geld in diese Funktionen zu investieren, indem ich eine teurere Kamera kaufe, mag mir für einen Moment die Illusion bringen, fast schon ein Fotografie-Profi zu sein. Spätestens nach den ersten Bildern werde ich in dieser Hinsicht jedoch wieder auf dem Boden der Realität sein. Und mich darüber ärgern, viel Zeit auf die Auswahl und viel Geld für den Erwerb der Kamera verschwendet zu haben.
Bis hierher klingt das alles noch in etwa so: Es ist zwar bisweilen schwierig mit der großen Auswahl und vielleicht auch ärgerlich, die falsche Wahl getroffen zu haben, aber das wird doch wohl allemal dadurch ausgeglichen, dass wir diese Auswahl überhaupt zur Verfügung haben.
Wirklich?
Beschäftigen wir uns mit den psychischen Auswirkungen der totalen Auswahl. Was macht das mit uns, wenn wir nie sicher sein können, eine richtige Entscheidung getroffen und alle Möglichkeiten wahrgenommen zu haben? Macht es uns glücklich oder erzeugt es Stress?
Nicht umsonst kennen wir den Begriff von der »Qual der Wahl«. Es gibt psychologische Studien, in denen herausgefunden wurde, dass etwa im Bereich von technischen Produkten bereits eine Auswahl von mehr als sieben Möglichkeiten die meisten Konsumenten überfordert. Die optimale Anzahl liegt sogar nur bei drei. 12 Das ist im Übrigen auch für die Industrie keine ganz uninteressante Erkenntnis. Die Folge ist nämlich nicht selten, dass diese Kunden am Ende gar kein Produkt kaufen, weil sie sich nicht entscheiden können.
Hier wie auch sonst im Leben kommt eine stark gestiegene Angst vor Fehlentscheidungen zum Ausdruck. Je größer die Auswahl, desto stärker steigen der psychologische Druck und das Gefühl, etwas Falsches auszusuchen, übers Ohr gehauen zu werden, zu viel Geld auszugeben. Der Mensch, für den die Produkte eigentlich da sein sollen, fühlt sich klein vor ihnen angesichts ihrer schieren Menge.
Dazu kommt noch, dass ein Teufelskreis entsteht: Wer ständig Angst vor Fehlentscheidungen hat, gerät unter Stress. Er verliert nicht nur einerseits die Fähigkeit, überhaupt noch sicher zu beurteilen, ob er wirklich eine falsche Wahl getroffen hat, sondern die ständige Stressüberlastung des Gehirns führt andererseits auch dazu, dass er im weiteren Verlauf
tatsächlich in immer größerer Gefahr steht, Fehlentscheidungen zu treffen, weil objektive Entscheidungskriterien eine zunehmend untergeordnete Rolle spielen.
Wie wohltuend eine »Auszeit« in diesem Teufelskreis sein kann, zeigte mir das Beispiel einer Bootstour in Griechenland, die ich einmal mit Freunden unternahm. Wir mussten eine ganze Woche lang keine (wichtige) Entscheidung treffen; die Richtung, in die wir fuhren, wurde von unserem griechischen Reiseführer bestimmt, die Arbeiten an Bord waren klar verteilt. Eine größere Entlastung, mehr Urlaub im eigentlichen Sinne hätte es gar nicht geben können.
Die Konsequenz aus diesem Teufelskreis ist eine Entwicklung, die wir gesellschaftlich in den letzten Jahren immer stärker sehen können. Es besteht eine gefährliche Tendenz, gar keine echten Entscheidungen mehr zu treffen, sondern immer nur vorläufige. Habe ich eine Entscheidung getroffen, interessieren mich die Auswirkungen eigentlich schon fast nicht mehr, sondern ich bereite mich gleich auf die nächste Entscheidung vor.
Auch hier ist das Feld der Partnerwahl ein gutes Beispiel. Die Klagen über die zunehmende Beliebigkeit von Beziehungen sind mittlerweile ein Allgemeinplatz. Der Begriff des Lebensabschnittspartners, einige Zeit noch mit ironischem Unterton gebraucht, hat heute seine volle Berechtigung, viele Menschen können sich tatsächlich kaum noch vorstellen, mit einem Partner mehr als einen
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