Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
zieht es ihn in die Twitter-Timeline, denn dort warten zum Teil ganz andere Kontakte unter denjenigen, bei denen er »Follower« geworden ist. Ein Teil dieser Kontakte überschneidet sich indes auch, sodass er manche Meldung nun doppelt serviert bekommt. Das Lesen der Timeline kann dauern, mittlerweile beschleicht ihn jedoch das komische Gefühl, es könnten wichtige eMails im Postfach lagern, also scrollt er sich schnell durch die aufgelaufenen Mails, nur um dann wieder den Bogen zurück zu Facebook zu schlagen, denn natürlich steht die Zeit dort nicht still, und seit dem letzten Besuch sind bereits wieder viele neue Mitteilungen der »Freunde« dazugekommen. Wobei anzumerken ist, dass diese Mitteilungen bzw. »Status-Updates« immer nur einen Ausgangspunkt
darstellen. Dazu kommen: Kommentare, Bilder, Links zu Freunden von Freunden, Videos, Audio-Dateien, Links zu weiterführenden Websites und mehr. Es wäre vermutlich sehr einfach, jemanden mit, sagen wir, 500 Facebook-Freunden vor den Rechner zu setzen und ihm aufzutragen, sich 24 Stunden in diesem Universum aufzuhalten. Das nie nachlassende Grundrauschen würde seine Psyche vollends zufriedenstellen.
Daraus folgt auch, dass die Psyche nicht zufrieden ist, wenn wir uns aus diesem »stream« ausklinken. Eine Studie der Napier-Universität in Edinburgh, über die die Süddeutsche Zeitung in ihrer Online-Ausgabe berichtet, hat dazu vor einiger Zeit ein interessantes Ergebnis gebracht. Dort gaben immerhin zwölf Prozent an, Facebook löse bei ihnen Angstgefühle aus. Weiterhin interessant in diesem Zusammenhang war noch, dass die Gruppe der »Ängstlichen« im Schnitt 117 Facebook-Freunde aufwies, während diejenigen, die nicht von Angst sprachen, lediglich auf 75 Freunde kamen. Anders gesagt: Je mehr Freunde bei Facebook, desto größer die Angst, wichtige Dinge zu verpassen, nicht informiert zu sein. Oder wie der Autor des Artikels es ausdrückt: »Wer sich ausloggt, bildet sich häufig ein, damit aus diesem privaten Nachrichtenkosmos ausgeschlossen zu sein.« 11
Wir sehen auch hier den Katastrophenmodus, und zwar in doppelter Hinsicht: Schaue ich dauerhaft auf den stream bei Facebook, werde ich mit allerlei Nachrichten, darunter naturgemäß überwiegend negativen Nachrichten, konfrontiert, die Stress auslösen und die Psyche überfordern. Steige
ich aus dem stream aus, erzeugt das ein schlechtes Gewissen und behindert das Hamsterrad, weil ich mich von der Welt ausgeschlossen fühle.
Ganz klar also: Für den modernen Menschen, dessen Psyche auf Katastrophe umgestellt hat, sind die sozialen Medien ideal, weil sie ihn ständig auf Trab halten. Man muss nie abschalten, die Psyche stabilisiert sich auf ihrem hochgedrehten Niveau. Selbst wenn man nicht vor dem Bildschirm sitzt, lösen all die Informationen in uns ein Weiterdrehen des Hamsterrades aus. Das ist möglicherweise etwas überspitzt dargestellt, aber die Tendenz zum »living online« ist eindeutig da und ist für die Psyche im Katastrophenmodus eine willkommene Gelegenheit, den Druck hoch zu halten.
Warum antwortest du nicht? Der Zwang zur permanenten Erreichbarkeit
»Liebe Freunde, heute nehme ich mal einen Tag Auszeit und schreibe nichts auf Facebook.«
(Facebook-Eintrag eines Users von seinem Blackberry-Smartphone aus)
Ein Arzt im Krankenhaus oder im Notdienst hat einen harten Job. Er muss stets erreichbar sein und hat zu diesem Zweck einen Pieper bei sich. Er muss während seines Dienstes also in jeder Sekunde damit rechnen, »angepiepst« zu werden und sofort auf eine neue, in der Regel schlimme, Situation zu reagieren.
Im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts sind wir zu einem Volk von Notärzten mit Piepern geworden. Permanente Erreichbarkeit ist das höchste Ziel, das der moderne Netzbürger vor Augen hat. Bleibt man im Bild des Netzes, das im Sinne von »viele Leute kennen« eigentlich ein positives ist, so wandelt sich dieses Bild ins Negative eines Spinnennetzes, aus dem es kein Entkommen gibt, weil das Opfer kleben bleibt.
Und kleben bleiben wir alle, immer häufiger, im Netz der Verfügbarkeit. Natürlich haben Handys und Computer einen Ausschalter, natürlich kann man ein Telefon auch einfach klingeln und den Anrufer mit dem Anrufbeantworter kommunizieren lassen. Wenn das nur nicht so verdammt schwierig geworden wäre! Jeder Anruf, jeder SMS-Signalton, jedes »Ping« einer neuen Mail im Postfach lösen bei uns Endorphinschübe aus. »Jemand. Will. Was. Von. Mir. Ich. Bin.
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