Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
konkreten Ort sich diese wegweisende Begegnung letztlich ereignet hat, eins ist sicher: Sie waren nicht wirklich vorbereitet, der Zufall spielte eine große Rolle, das Leben hat sie beide einfach so zusammengeführt, kurz: Sie hatten ja gar keine Wahl …
Das ist heute anders. Zum RL ist eine weitere Dimension hinzugetreten, das VL, das »Virtual Life«, die Cyber-Existenz, ein zweites Ich im virtuellen Raum gewissermaßen, das in sozialen Netzwerken, Chats und per eMail mit anderen kommuniziert, die es niemals zu sehen bekommt. Zu den sozialen Netzwerken im weiteren Sinne kann man auch Partnersuchbörsen zählen, über die Singles heute ihren Traumpartner finden können, so lautet zumindest das immer implizite und oft genug auch explizite Versprechen der Betreiber solcher Plattformen.
Die Partnersuche im Internet hat Konjunktur. Seit es die ersten Gehversuche mit solchen Seiten gab, sind Nachfolgeprojekte
wie Pilze aus dem Boden geschossen, und einige der größten rühmen sich mittlerweile durchaus nennenswerter Mitgliederzahlen.
Die Existenz solcher Plattformen ist natürlich nicht zu beanstanden. Kontaktanzeigen hat es auch zu Print-Zeiten schon gegeben (und es gibt sie immer noch). Der entscheidende Punkt liegt in der Illusion, den Zufall ausschalten zu können, selbst auswählen zu können, wie der zukünftige Lebenspartner beschaffen sein muss, damit wir es ein Leben lang mit ihm oder ihr aushalten.
Der Effekt ist ein extrem überzogenes Anspruchsdenken in Bezug auf einen potenziellen neuen Partner. Man glaubt, sich mit den neuen technischen Möglichkeiten die beste Partie überhaupt aussuchen zu können, und wird entsprechend anspruchsvoll. Spricht man mit Menschen, die über diesen Weg jemanden kennen gelernt haben, bekommt man in den meisten Fällen zu hören, dass das natürlich nicht funktioniert. Irgendetwas stimmt immer nicht, und entdeckt wird das eher früher als später. Oft schon beim ersten Treffen. Vielleicht kann der andere tatsächlich so schön erzählen, wie er in seinem Profil angepriesen hat. Was aber nützt das, wenn der Inhalt des Erzählten uns nicht interessiert? Vielleicht mag er wirklich genauso gerne einen trockenen Rotwein wie wir, was aber nützt das, wenn er nach einer halben Stunde schon beim dritten Glas ist und nicht mehr schön erzählen kann?
Diese Art der Partnersuche artet mit steigendem Alter zunehmend in Stress aus. Bei Frauen tickt die biologische Uhr, wenn sie nach der ersten Karrierephase in ihrem Leben vielleicht doch feststellen, dass sie gerne Kinder haben möchten. Und bei Männern erschlafft der ewige Jagdinstinkt mit
den Jahren bisweilen auch ein wenig, die Sehnsucht nach einer lang dauernden »echten« Beziehung bzw. der einen ewig dauernden Beziehung wird größer. Da wird es dann zum großen Problem, dass die reine Vernunftehe früherer Tage mittlerweile durch den Wunsch nach dem perfekten Partner abgelöst worden ist. Die Akzeptanz von Schwächen, das Miteinander-Auskommen »in guten wie in schlechten Tagen« ist zur Ausnahmeregelung herabgestuft.
Es geht hier natürlich nicht darum, wo und auf welche Weise man seinen Lebenspartner kennen lernen könnte. Entscheidend für unseren Zusammenhang ist, was das System der Partnerbörsen dem Nutzer vorgaukelt. Es wird suggeriert, dass irgendwo da draußen Hunderte Menschen nur darauf warten, von mir gefunden zu werden. Diese Menge an Menschen, so bekomme ich vermittelt, muss doch auch genau die Mischung bereitstellen können, die mir in meinen kühnsten Träumen vorschwebt. Die banale Erkenntnis, dass Partnerschaften, wenn sie von Dauer sein sollen, früher oder später mit Kompromissen leben müssen, kommt in diesem System nicht mehr vor. Das bedeutet: Sobald der erste Kompromiss am Horizont droht, verziehen wir uns und gehen wieder auf die Pirsch. Es gibt ja so viel Auswahl.
Die Partnerwahl ist nur ein Beispiel für die Diktatur der unbegrenzten Möglichkeiten. Am Beispiel der unendlichen Auswahl an Handys, Tarifen, Verbindungen hatte ich ja bereits gezeigt, wie uns diese Auswahl am Ende total überfordert. Und es ist seitdem nicht besser geworden.
Wenn wir unser Alltagsleben einmal genau betrachten, sehen wir eine stetig steigende Zahl von nicht immer sinnvollen Entscheidungsmöglichkeiten. Wer ein neues Auto kaufen will, hat eine derart große Auswahl an Farb- und
Ausstattungsvarianten, dass man etwas böswillig vermuten könnte, allein aus einem Grund würden immer noch so viele schwarze, weiße und
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