Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
das so ist, haben wir es genau mit dem beschriebenen Effekt zu tun, dass die Psyche auf Katastrophenmodus umgestellt hat und versucht, dieses Niveau im Hamsterrad zu erhalten. Wir stöhnen zwar über all die Anforderungen, die auf uns einprasseln, sind aber unbewusst stets auf der Suche nach neuem Stress, um weiterrennen zu können.
Wenn wir verstehen würden, dass hier von uns selbst unmerklich an den Stellschrauben gedreht wird, die mittelfristig für die ganze Gesellschaft von Bedeutung sind, weil die negativen Auswirkungen sich bis auf die Kinder erstrecken, wäre schon viel gewonnen.
Ein Gespräch mit Margot Käßmann – Halt im Glauben finden
Im Zuge der vielen Gespräche, die ich für dieses Buch mit den unterschiedlichsten Menschen geführt habe, bat ich auch die ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann um Antworten auf einige wesentliche Fragen. Da der Glaube für viele Menschen immer noch eine Möglichkeit der Orientierung wie auch des Rückzugs bietet, war es spannend zu erfahren, welche Möglichkeiten eine exponierte kirchliche Person wie Margot Käßmann sieht, um zu sich zu kommen und innere Ruhe zu erlangen.
Ein Kennzeichen unserer Mediengesellschaft ist die überbordende Informationsflut, mehr noch: immer mehr Krisen- und Katastrophenmeldungen.
Meine These ist, dass diese hauptverantwortlich für eine gefühlte psychische Überforderung der Menschen sind und sie nicht mehr zur Ruhe kommen lassen. Wie beurteilen Sie die Situation? Stellen Sie einen solchen Effekt bei sich oder in Ihrem Umfeld fest?
Ich denke, die Mediendurchflutung ist in der Tat ein Problem. Als ich Kind war, begann das Fernsehprogramm um 16 Uhr und endete um 24 Uhr mit Standbild und Nationalhymne. Es gab nur zwei Programme. Heute gibt es auch hier kein gemeinsames Erleben mehr, und für Eltern ist es ungeheuer schwer, mit der Medienwelt pädagogisch verantwortlich umzugehen. Das kostet sehr viel Kraft. Allerdings finde ich all den Pessimismus auch fatal. Jede Generation meint:
Früher war alles besser. Ich bin zutiefst überzeugt, wenn Menschen andere Interessen haben: Musik, Sport, Spiel, Gemeinschaft, Kirche, soziales Engagement, dann treten Medien in den Hintergrund.
Welche Strategien sehen Sie, es den Menschen zu ermöglichen, wieder »zu sich« zu kommen? Wie kann man dem Hamsterrad entkommen?
Als Christin ist für mich der gelebte Glaube natürlich entscheidend. Gebet, Lesen in der Bibel, Gottesdienst, Meditation, Zeiten der Stille. Ich denke, wer sein Leben vor Gott verantwortet, lebt anders. Viele suchen eine Auszeit, etwa im Kloster. Aber ich kann auch meinen Alltag so gliedern, dass ich nicht im Hamsterrad verloren gehe, sondern immer wieder Möglichkeiten finde, Luft zu holen, zu fragen, was entscheidend ist in meinem Leben.
Wie hat sich das kirchliche Umfeld unter dem Eindruck des technologischen Fortschritts und der unkontrollierbaren Infoflut entwickelt?
Viele Menschen schätzen die Ruhe und die Kraft kirchlicher Spiritualität neu. Und gleichzeitig versucht die Kirche, die neuen Medien zu nutzen. Etwa durch Seelsorge online, Blogs, einen eigenen Auftritt im Internet.
Ist in der kirchlichen Beratungspraxis ein erhöhter Bedarf hinsichtlich von Problemen erkennbar, die auf eine psychische Überforderungssituation zurückgehen?
Unsere Seelsorger erleben, dass viele Menschen Seelsorgeangebote suchen. Gerade die Telefonseelsorge ist da von unschätzbarer Bedeutung. Aber auch in Briefen erfahre ich, wie viele Menschen Sehnsucht danach haben, dass ihnen jemand zuhört, Zeit für sie hat.
Was kann Kirche aus ihrer spezifischen Kompetenz heraus tun, um Menschen in Überforderungssituationen Halt zu geben?
Zeit und Gemeinschaft sind entscheidende Faktoren. Die gibt es in Kirchengemeinden, in der Seelsorge und in der Glaubenszusage: Dein Leben macht Sinn. Auch wenn du selbst nicht leistungsfähig bist, deine Lebensträume zerfallen – du bist eine angesehene Person, weil Gott dich ansieht. Wer sich so in der eigenen Würde bestätigt weiß, hat eine ganz eigene Lebenskraft.
Wie gehen Sie selbst damit um, wenn Sie bemerken, dass zu viel auf Sie einstürzt?
Ich suche Rückzug, Stille und Ruhe. Bin im Gespräch mit Gott, bete. Und vielleicht singe ich ein wunderbares Lied wie »Befiehl du deine Wege«.
Glauben Sie, dass Menschen, die stärker im Licht der Öffentlichkeit stehen, besondere Strategien der Stressbewältigung entwickeln, die auch für »Otto
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