Lasst Knochen sprechen: 3. Fall mit Tempe Brennan
der Defekt immer deutlicher sichtbar wurde. Es dauerte nur wenige Augenblicke.
Was ich entdeckt hatte, war ein kleines rundes Loch knapp oberhalb und hinter der Ohröffnung. Ich schätzte den Durchmesser auf etwa einen Zentimeter.
»Schusswunde?«, fragte Bergeron.
»Vielleicht. Nein. Ich glaube nicht.«
Obwohl die Perforation die richtige Größe für ein Kleinkaliberprojektil hatte, sah sie nicht aus wie ein Einschussloch. Der Rand war glatt und gerundet, wie bei einem Donut-Loch.
»Was dann?«
»Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht eine Art Geburtsfehler. Vielleicht ein Abszess. Genaueres kann ich erst sagen, wenn ich den Schädel geleert und mir die Innenseite angesehen habe. Außerdem brauche ich Röntgenaufnahmen, um festzustellen, wie es im Knocheninneren aussieht.«
Bergeron sah auf die Uhr.
»Sagen Sie nur Bescheid, wenn Sie fertig sind, damit ich ein paar Zahnaufnahmen machen kann. Wiederherstellungen habe ich noch keine gesehen, aber vielleicht entdecke ich etwas auf den Röntgenbildern. Der rechte Eckzahn hat eine etwas merkwürdige Stellung, was mich vielleicht weiterbringt, trotzdem hätte ich lieber auch den Unterkiefer.«
»Das nächste Mal gebe ich mir mehr Mühe.«
»Nicht nötig«, lachte er.
Als Bergeron gegangen war, stellte ich den Schädel verkehrt herum auf einen Gummiring und drehte das Wasser nur so weit auf, dass es ganz sanft in das Hinterhauptsloch lief. Dann machte ich mich wieder daran, Gately und Martineau zu fotografieren und alle Skelettcharakteristika zu dokumentieren, die für ihre Identifikation von Bedeutung waren. Außerdem machte ich mehrere Aufnahmen von den Einschusslöchern im Hinterkopf jedes Mannes.
In regelmäßigen Abständen kontrollierte ich den Schädel der Unbekannten und goss den Schlamm weg, den das Wasser gelöst hatte. Als ich kurz vor Mittag eben wieder Sediment abgoss, löste sich etwas und schlug gegen das Schädelinnere. Ich stellte den Schädel wieder auf den Ring und fuhr mit dem Finger hinein.
Der Gegenstand fühlte sich lang und dünn an. Ich versuchte ihn zu lösen, aber das Ding hatte irgendein Anhängsel, das noch in der Erde feststeckte. Obwohl ich meine Neugier kaum bezähmen konnte, schwenkte ich den Hahn wieder über den Schädel und kehrte zu meinem Gately-Bericht zurück.
Um eins schwamm der Gegenstand frei in der Schlammbrühe, aber das Anhängsel war noch immer wie festzementiert. Ungeduldig füllte ich das Spülbecken mit Wasser, tauchte den Schädel ein und ging in die Cafeteria.
Als ich vom Mittagessen zurückkehrte, hatte das Einweichwasser den Rest der Erde gelöst, und ich konnte alles ganz einfach abgießen. Mit angehaltenem Atem steckte ich die Finger hinein und zog den Gegenstand behutsam heraus.
Das Ding war knappe zehn Zentimeter lang und bestand aus einem Stück Schlauch mit einem Ventil am Ende. Ich säuberte es und legte es in eine Schale. Da ich mir zwar seiner Bedeutung bewusst war, aber keine Ahnung hatte, worum es sich handelte, wusch ich mir die Hände und machte mich auf die Suche nach einem Pathologen.
Nach dem Dienstplan war LaManche in einer Besprechung des Komitees zur Kindersterblichkeit. Marcel Morin saß an seinem Schreibtisch.
Er hob den Kopf, als ich an die Tür klopfte.
»Haben Sie eine Minute Zeit?«
»Aber natürlich.« Sein Französisch war warm und lyrisch, ein Überbleibsel seiner Kindheit auf Haiti. Ich trat ein und stellte die Schale auf den Tisch.
»Ah. Ein chirurgisches Implantat.« Seine Augenbrauen hoben sich hinter der randlosen Brille. Sie waren grau meliert, wie die kurz geschnittene Krause, die schon sehr viel Stirn zeigte.
»Ich dachte es mir. Können Sie mir mehr darüber sagen?«
Er hob die Hände. »Nicht viel. Sieht aus wie ein ventrikulärer Shunt, aber ich bin kein Neurochirurg. Vielleicht sollten Sie mit Carolyn Russell reden. Sie hat für uns schon einige neurologische Gutachten gemacht.«
Er blätterte in seinem Rolodex, kritzelte eine Nummer auf einen Zettel und gab ihn mir. »Sie ist am MNI.«
Ich dankte ihm, ging in mein Büro und rief das Montreal Neurological Institute an. Dr. Russell war in einer Besprechung, also hinterließ ich ihr eine Nachricht. Ich hatte eben aufgelegt, als das Telefon klingelte. Es war Claudel.
»Haben Sie mit Bergeron gesprochen?«
»Er ist eben erst gegangen.«
»Also schaffen zwei den Sprung von der Vermisstenliste zur Totenliste.«
Ich wartete, dass er weiterredete, aber er tat es nicht.
»Und?«
Eine typische Claudel-Pause,
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