Lasst uns ueber Liebe reden
Constance-Billard-Schule für heimliche
Lesben, aber Ms Crumb war die Einzige, die sich offiziell geoutet hatte. Sie
lief in der Schule mit Regenbogen-Anstecknadel rum, bewohnte zusammen mit fünf
anderen Frauen ein Landhaus im extrem liberalen New Paltz und erwähnte ihre
sexuelle Orientierung oft in Nebensätzen wie »als ich gestern Abend in der
Küche saß und eure Arbeiten korrigierte, saß meine Liebste nebenan, trank
Amstel Lite und guckte Barbara Walters, auf die sie total abfährt«. Zu Beginn
des Schuljahres freuten sich die neuen Neuntklässlerinnen immer auf kreatives
Schreiben mit Ms Crumb, die alle für cool und locker hielten, weil sie ihre
lesbischen Neigungen so offen auslebte. Aber schon in der ersten Stunde wurde
allen klar, dass sie nicht fünfundvierzig Minuten in fröhlicher Runde dasitzen
und mit einer Frau, die auf Frauen stand, über interessante Frauenthemen
quatschen würden - sie mussten jedes Mal einen Text schreiben, ihn laut
vorlesen und sich dann anhören, wie er von Ms Crumb und den anderen, durchaus
nicht immer zart fühlend, zerpflückt wurde. Ms Crumb war knallhart, aber
trotzdem war kreatives Schreiben immer noch tausendmal besser als Geometrie.
Diesmal
hatte Ms Crumb die Mädchen aufgefordert, sich eine Partnerin zu suchen - im
platonischen Sinn - und in einem kurzen Text ein bestimmtes Körperteil der
jeweils anderen zu beschreiben. Jenny und Elise hatten sich natürlich
zusammengetan. Sie machten mittlerweile fast alles zusammen.
Eigentlich
ist es komisch, dass wir unsere Ohren sogar noch schmücken, statt sie zu
verstecken, schrieb Jenny. Im Grunde
sind sie nämlich genauso obszön wie die Körperteile, die wir mit Kleidung
verhüllen. Es sind nackte Öffnungen, die direkt ins Innere unseres Kopfes
führen. Die Ohren meiner Freundin Elise sind klein und mit blondem Flaum bedeckt.
Sie fragt nie »Was?« oder bittet mich, etwas zu wiederholen, also hört sie
anscheinend sehr gut. Wahrscheinlich macht sie ihre Ohren auch oft sauber.
Jenny
blickte kurz auf und entschied sich dann, den letzten Satz zu streichen und
durch etwas Unverfänglicheres zu ersetzen. Sie wollte nicht, dass sich Ms Crumb
angesprochen fühlte, die ja ganz offensichtlich einen Ohrputzfimmel hatte.
Statt
weiterzuschreiben, fiel ihr plötzlich wieder Blairs Hinweis ein, öfter mal ihre
Mails zu checken. Sie hatte sie seitdem zwar regelmäßig abgerufen, aber es
waren immer nur pseudowitzige Nachrichten von Elise oder ihrem Bruder gewesen,
die schrieben, sie solle endlich aufhören, ihre Mails zu checken und lieber
Hausaufgaben machen. Sie schaute zu Elise hinüber, die wie eine Besessene
schrieb und schon eine zweite Seite angefangen hatte. Jenny wünschte, sie
könnte sich so treffend ausdrücken wie Dan, aber ihre Begabung lag eher auf
einem anderen Gebiet: Sie zeichnete und malte sehr gut und hatte eine begnadete
Handschrift. Über ihren Text hatte sie eine Detailansicht von Elises Profil
mitsamt Ohr gezeichnet. Hoffentlich würde Ms Crumb wenigstens ihre
künstlerischen Bemühungen honorieren, wenn ihr Text schon so lahm war. Wieder
wanderten Jennys Gedanken - diesmal zu dem blonden Jungen, den sie bei Bendels
gesehen hatte. Ob er sich wohl auch für Kunst interessierte?
Ein
durchdringendes Klingeln signalisierte das Ende des Schultags. Ms Crumb stand
auf und klopfte sich den Kreidestaub von ihrem dunkelgrauen Trägerkleid, das
aussah, als wäre es von Nonnen an einem kalten, auf der modischen Landkarte
nicht verzeichneten Ort wie Grönland entworfen worden.
»Die Zeit
ist um, meine Lieben. Legt die Stifte weg. Beim Rausgehen könnt ihr mir die
Blätter auf den Tisch legen.« Sie schob ihre braun bestrumpften Füße in
schwarze Filzschlappen von L.L. Bean. »Dann wünsch ich euch allen einen schönen
Donnerstagnachmittag!«
»Und? Was
hast du beschrieben?«, wollte Jenny von Elise wissen, nachdem sie ihre Taschen
gepackt hatten und auf dem Weg nach draußen waren.
»Sag ich
nicht.« Elise lief rot an.
»Denk bloß
nicht, dass du es geheim halten kannst. Wahrscheinlich musst du es am Montag
sowieso vorlesen«, erinnerte Jenny sie. »Ich hab übrigens deine Ohren beschrieben,
aber irgendwie klingt es total blöd.«
Ein
eisiger Februarwind blies, und die beiden Mädchen liefen mit eingezogenen
Köpfen zur Lexington Avenue, von wo aus sie mit dem Bus zu Bloomingdale's auf
der 59. Straße fahren wollten. Elise hatte Jenny angeheuert, ihr dabei zu
helfen, die perfekte Jeans für unter achtzig Dollar zu
Weitere Kostenlose Bücher