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Last days on Earth

Last days on Earth

Titel: Last days on Earth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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Streubüchse mit dem feinen weißen Vogelsand heraus, der
zart nach Anis duftete. Dann die schwarze Ölkreide, das Fläschchen mit
destilliertem Wasser, einen Korb mit glatten, flachen Flusskieseln, die mit
Runen bemalt waren, eine Kerze und etwas Moos. Er dachte kurz nach und legte
noch den Silberanhänger, der das Rad des Lebens zeigte, sowie eine winzige
Nachbildung der Weltenesche aus Gold und eine aus Blei gegossene und schwarz
lackierte Statuette der vielarmigen Kali Durga zu den anderen Dingen auf den
Tisch.
    Raoul trank noch einen Schluck Wein, rollte ihn im Mund herum und
dachte nach. Er nahm seinen Montblanc, schraubte ihn auf und schrieb nach
kurzem Nachdenken ein paar Worte auf die Unterlage, auf der die Kugel lag.
»Tod«, schrieb er. »Schmerz. Blut. Verlust. Angst. Bosheit. Auftrag. Töten.
Geld.« Er dachte kurz nach, strich das Wort »Bosheit« wieder aus und ersetzte
es durch »Geschäft«. Während die dunkelviolette Tinte langsam trocknete, nahm
er die Streubüchse und zog einen Kreis auf dem Tisch. In diesen Kreis zeichnete
er sorgfältig mit der schwarzen Ölkreide ein Pentagramm, in dessen Ecken er die
Kali Durga, das Lebensrad und die Weltenesche platzierte. Die beiden freien
Spitzen besetzte er nach kurzem Überlegen mit etwas Moos und einem Runenstein,
dann griff er nach dem Skalpell, das für solche Zwecke in einer Silberschale
bereitlag, und zog es mit einer festen, schnellen Bewegung über seine
Handfläche. Dann führte er die blutende Hand über die Runensteine und ließ ein
gut bemessenes Quantum Blut auf sie herabtropfen. Nach kurzer Überlegung
beträufelte er auch die Kali Durga.
    Er lehnte sich zurück, wickelte ein sauberes Tuch um seine Hand und
griff nach dem Weinglas. Der Pinot schmeckte zart nach Mandeln und Ananas.
    Raoul spülte einen Schluck im Mund herum, beugte sich vor und
sprühte den Wein behutsam auf das Pentagramm. Er tupfte sich den Mund ab und
kehrte zu den aufgeschriebenen Worten zurück. Er strich alle Buchstaben durch,
die doppelt vorkamen, schrieb die übrig gebliebenen neu auf und ordnete sie zu
einer Art Muster. Das wiederholte er mehrmals, bis ihn das Ergebnis zufriedenstellte.
Er warf noch einen kurzen Blick auf die Sigille, achtete darauf, sie sich
einzuprägen und gleich wieder zu vergessen. Mit einer Silberpinzette hob er die
Kugel vom Papier und legte sie in die Mitte des Pentagramms. Ein kurzer Befehl
brachte die Kerze zum Brennen. Er nahm das Papier mit der Sigille und hielt es
an die Kerzenflamme, und während das Papier verbrannte, drehte er es zwischen
den Fingern und flüsterte auf Arabisch einen Bannspruch, der störende Einflüsse
fernhalten sollte. Das letzte brennende Fetzchen warf er in die Silberschale,
in der das blutige Skalpell lag, und wischte sich die Asche von den Fingern.
    Jetzt brauchte er eine Pause. Raoul stand auf und ging zum
Kühlschrank.
    Eine Weile stand er an die Spüle gelehnt da und nippte an seinem
Wein. Die gerade verbrannte Sigille malte feurige Muster auf seine Netzhaut. Er
schob das Bild in einen Winkel seines Bewusstseins, aus dem er es jederzeit hervorholen
konnte, und vergaß die Sigille erneut. Diesen Vorgang würde er möglicherweise
noch ein weiteres Mal wiederholen müssen – es war sein Fluch, dass er über ein
ausgezeichnetes visuelles Gedächtnis verfügte. Tora hatte sich immer darüber
amüsiert. Sie konnte Sigillen produzieren und im selben Augenblick schon ganz
und gar aus ihrem Gedächtnis verbannen, während Raoul sie immer noch Stück für
Stück zur Tür hinausprügeln musste.
    Er war so müde, dass er sich an den Schreibtisch zurückzwingen
musste. Er blieb hinter dem Stuhl stehen und blickte auf das vorbereitete
Pentagramm. Hatte er etwas vergessen? Sein Blut, die Kugel, die verbrannte
Sigille – wieder musste er sie ins Vergessen schieben –, die Runen. Er griff
nach dem destillierten Wasser und tropfte es sorgsam rund um den Kreis aus
Vogelsand.
    Alles war bereit. Raoul leerte seinen Geist von jeder Absicht. Dort
war das Pentagramm. Zwischen ihnen bestand ein Band aus Blut. Er wollte nichts
wissen, nichts erfahren, nichts erzwingen. Er senkte seine Lider, breitete die
Hände über dem Pentagramm aus und ließ die Sigille entstehen. Flammend hell
senkte sie sich auf den Aufbau, durchdrang die Gegenstände, verschmolz mit dem
Blut, dem Wein und dem Wasser,

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