Last Exit
2004. Es war noch hell, als er über die Donau von Buda nach Pest fuhr und sein winziges, unscheinbares Zimmer im Ibis Budapest Centrum bezog. Natürlich hätte er ein vornehmeres Hotel am Fluss vorgezogen, aber er musste sich sein Geld gut einteilen. Außerdem war er jetzt auf sich gestellt und wollte sich möglichst unauffällig verhalten.
Er besuchte eine der vielen Cafébars entlang der Ráday Utca, die renoviert worden war, um der wachsenden Schar reicher Kunden größeren Komfort zu bieten. Als Aperitif bestellte er sich einen Unicum, jenen legendären Kräuterlikör, dem die Ungarn heilsame Eigenschaften zuschreiben. Im hinteren Teil der Bar befanden sich drei Computer mit Internetanschluss.
Sehr schnell fand er eine Biografie von Henry Gray auf einem Blog. Dieses trug den zweifelhaften Namen »Wahllose Innenansichten der Innenansicht« und sammelte Meldungen, die seine Thesen von der Weltverschwörung unterstützten. Zusätzliche Informationen stammten aus einer professionelleren Quelle – der American Society of Journalists and Authors – und einem Essay von 2005, in dem sich Gray zu seiner Person geäußert hatte. Er stieß sogar auf eine Budapester Adresse an der Vadász Utca.
Gray war in Virginia geboren und noch vor seinem zwanzigsten Lebensjahr als Austauschschüler nach Deutschland und Jugoslawien gekommen. Schon bald hatte ihn
das Reisefieber gepackt. Mit fünfundzwanzig wurde er freier Journalist und packte seinen Koffer. Wahrscheinlich nach dem Vorbild von Hemingway und Henry Miller flog er nach Paris, fand dort aber keine regelmäßige Arbeit. Das war Anfang der Neunziger, als der Balkan explodierte, und so packte er erneut und machte sich auf den Weg nach Belgrad. Dort war das Klima für Journalisten allerdings nicht sehr günstig. Nachdem die serbische Geheimpolizei UDBA seine Tür eingetreten und ihn eine Stunde lang festgehalten hatte, floh Gray nach Norden in das relativ ruhige Budapest, wo er aus sicherer Distanz über die gesamte Region berichten konnte.
Sein Renommee beruhte weitgehend auf einem einzigen, in vielen wichtigen Zeitungen abgedruckten Artikel über den Luftwaffenstützpunkt Taszár mit dem wenig einfallsreichen Namen Camp Freedom. Dort bildeten die USA dreitausend Kämpfer der Free Iraqi Forces aus in der Hoffnung, dass ihre bevorstehende Invasion nach einem Aufstand einheimischer Freiheitskämpfer und nicht nach westlichem Imperialismus aussehen würde. Wie der Name des Lagers erwies sich der ganze Plan als naiver Optimismus.
Neben banalen Berichten über Handelsabkommen in Mitteleuropa und auf dem Balkan fand er zahlreiche andere Beiträge Grays, die weniger glanzvoll waren: »Die 9/11-Verschwörung – was der Untersuchungsausschuss nicht verrät« und: »Die Weltregierung – wem nützt sie?«
Sicher gab es auch normale Artikel aus Grays Feder, aber sie ertranken in einer Flut von im Netz verstreuten Verschwörungstexten. Er nahm Mineralwasserunternehmen aufs Korn, die die Welt mit Unterstützung der amerikanischen Regierung davon überzeugt hatten, dass man für diese natürliche Ressource bezahlen sollte. Er spekulierte
über die Bilderberg-Gruppe, eine jährlich stattfindende Geheimkonferenz einflussreicher Geschäftsleute und Politiker, die nach seiner und der Auffassung ähnlich gesinnter Leute zielstrebig auf die Einführung einer Weltregierung hinarbeiteten. Für Gray stand zweifelsfrei fest, dass die CIA hinter 9/11 steckte, eine Behauptung, die Milo trotz seiner Vorbehalte gegen seinen baldigen Exarbeitgeber für sehr unwahrscheinlich hielt. Zwar war es nicht auszuschließen, dass sich jemand in Langley so etwas zusammenfantasiert hatte – schließlich wurden einige Mitarbeiter eigens dafür bezahlt, sich das Undenkbare einfallen zu lassen. Aber es war unvorstellbar, dass die Company ein derart gigantisches Betrugsmanöver inszenierte, ohne dabei erwischt zu werden. Dafür war die Erfolgsbilanz des Dienstes einfach zu bescheiden.
Letzten Endes gewann Milo den Eindruck, dass Henry Gray ein paranoider, wurzelloser Verschwörungsforscher war, der diese Theorien benutzte, um sich die Unzufriedenheit mit seinem eigenen Leben zu erklären. Solche Menschen gab es wie Sand am Meer. Allerdings stellte sich damit auch die Frage, warum ihn jemand, der Milos Namen benutzte, unbedingt aufspüren wollte.
Trotz seiner abenteuerlichen Auffassungen hatte Gray sicher Freunde und Bekannte in Kreisen englischsprachiger Journalisten in Budapest. Milo erstellte eine Liste
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