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Last Exit

Last Exit

Titel: Last Exit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olen Steinhauer
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Und wissen Sie, warum?«
    »Warum?«
    »Er wollte nicht, dass sie mich aufs Korn nehmen. Einfach schockierend!«
    »Aber dann ist er auf einmal verschwunden, oder?« Milo versuchte, beim Thema zu bleiben. »Macht sich denn niemand Sorgen um ihn?«
    »Ach, wissen Sie«, knurrte Parkhall. »Ich meine, die Jungs mögen ihn, aber …« Stirnrunzelnd überlegte er sich seine Worte. »Aber ohne ihn ist das Leben auch nicht schlechter, wenn Sie verstehen. Nein, wir machen uns keine Sorgen. Wir wissen, dass er sich irgendwo verkrochen hat. In Prag vielleicht oder in Belgrad. Dort wartet er mit einer Flasche Wodka, bis sich der Sturm verzogen hat. Wahrscheinlich ein ausgedehntes Besäufnis. Haben wir ja alle schon mal durchgemacht.«
    Milo nickte verständnisvoll. »Da fällt mir ein, was ich gehört habe – vielleicht nur ein Gerücht. Kurz nach seinem Verschwinden soll jemand anders nach ihm gesucht haben. Ein Mann.«
    »Milo Weaver.« Die Erinnerung schien Parkhall zu beleben. »Netter Kerl. Arbeitet für AP.«
    »AP?«
    »Associated Press.«
    »Ach so, natürlich. Ich hab das Gefühl, dass er mir schon mal begegnet ist, aber ich bin nicht sicher. Können Sie ihn beschreiben?«
    »Klar. Blond, groß. Was sonst? Blaue Augen. Strahlend blau. Mein Gott, klingt ja fast, als würde ich von einer Frau reden, auf die ich scharf bin.«
    »Genau.« Milo überlegte kurz. Die Beschreibung war eher dürftig, aber es war immerhin ein Anfang. »Weil wir
gerade von Frauen reden, hatte Gray nicht eine Freundin? Eine Ungarin?«
    »Zsuzsa!« Parkhall wirkte auf einmal richtig munter. »Er hat erzählt, dass sie mit ihm geschlafen hat, aber ›Freundin‹ ist übertrieben. Also, sie hat sich wirklich Sorgen um ihn gemacht. Hat sogar eine Zeit lang rumgesucht. Zsuzsa ist in Ordnung, aber sie war so besessen, dass sie ihren Job verloren hat.«
    »Ein Jammer.«
    »Vielleicht. Aber jetzt zieht sie sich aus und verdient viel besser damit.« Er hielt inne. »Wenn Sie was über Henry erfahren wollen, müssen Sie mit ihr reden. Wenn Sie sie sehen, werden Sie verstehen, warum niemand von uns glaubt, dass er sie wirklich rumgekriegt hat. Ich vielleicht. Aber Henry?«
    »Muss ja eine Klassefrau sein.«
    »Und ob. Hören Sie.« Parkhall setzte sich aufrecht hin. »Sobald ich dieses verdammte Kopfweh losgeworden bin, können wir ihr ja einen kleinen Besuch abstatten. Sie tanzt heute Abend im 4Play. Wenn Sie allein aufkreuzen, wird sie denken, Sie sind ein Perverser … oder von der CIA. Also praktisch das Gleiche.«
    »Danke«, erwiderte Milo. »Das wäre wirklich nett von Ihnen.«

21
    Oberflächlich betrachtet waren Milo und Henry Gray gar nicht so verschieden. Ein Außenstehender, erkannte Milo verzweifelt, hätte sie glatt miteinander verwechseln können. Beide sahen die Welt mit einem paranoiden Blick, neigten dazu, plötzlich zu verschwinden, und ließen ihre Freunde lieber im Unklaren, um sie zu schützen – so wie es Milo bei seiner Frau gemacht hatte. Doch in den Stunden vor der Verabredung mit Parkhall um halb neun konzentrierte er sich lieber auf das, was ihn von dem Journalisten trennte.
    Während Gray über Freimaurersymbolen rätselte, um seine verschwörerischen Thesen zu untermauern, studierte Milo die Fakten, um Verbindungen herzustellen, falls vorhanden, und darauf seine Theorien zu stützen. Dieser feine Unterschied war wesentlich. Für jemanden wie Gray existierte Ockhams Rasiermesser nicht, denn seine Logik war bereits durch seine Annahmen korrumpiert. Milo hingegen strebte danach, von so wenigen Annahmen wie möglich auszugehen.
    Um die vorhandenen Fakten überprüfen zu können, brach er in Grays verstaubte Wohnung an der Vadász Utca ein. Er erkundete die große Büchersammlung (Sachtitel, dazu ein kleines Bord mit internationalen Thrillern), die aufwendig renovierte Küche (die auf einen ambitionierten Amateurkoch schließen ließ), die ungeöffnete Packung
mit zwanzig Kondomen (Gray war optimistisch) und einen riesigen Plasmafernseher.
    Er rief im nächsten größeren Krankenhaus an, dem Péterfy Sándor Kórház, und gab sich wie der falsche Milo Weaver vor ihm als amerikanischer Arzt aus, der sich für Henry Grays Krankenakte interessierte. Nachdem man ihn an jemanden verwiesen hatte, erfuhr er, dass Gray samt seiner Akte letztes Jahr in das Szent János Kórház verlegt worden war. Mit der Straßenbahnlinie 6 fuhr er über die Donau nach Buda, um dem St. János einen Besuch abzustatten, aber die Ärzte waren nicht da, und

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