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Last Exit

Last Exit

Titel: Last Exit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olen Steinhauer
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zog die Kartenverkäuferin hinter ihrem Schalter hervor und schob sie hinunter zu den Uniformierten. Milo hielt inzwischen nach Besuchern Ausschau. Es waren nur noch zwei da: ein älteres Paar im ersten Saal. Verdutzt starrten ihn die beiden an.
    Während Radovan auf die Gefangenen aufpasste, zückten Milo und Stefan ihre Drahtschneider. Gleich nach dem ersten Schnitt setzte eine schrille Alarmglocke ein, aber darauf waren sie gefasst. Seinen Berechnungen nach hatten sie mindestens zehn Minuten. Ein Monet, ein van Gogh, ein Cézanne und ein Degas.
    Mit den schweren Glasscheiben waren die Gemälde sperrig, daher mussten sie jedes zu zweit zum Lieferwagen tragen. Sieben Minuten später tippte Milo dem bedrohlich
hin- und herstapfenden Radovan auf die Schulter. Rasch traten sie den Rückzug an.
    Giuseppe stieg aufs Gas.
    Das war natürlich der leichte Teil. Vier Bilder im Wert von über einhundertsechzig Millionen Dollar in weniger als zehn Minuten. Keine Leichen, keine Verletzten, keine Fehler. Gesichtsmasken, ein Minumum an Gesprächen und ein weißer Lieferwagen auf dem Weg aus der Stadt.
    Giuseppe blieb eisern am Tempolimit. Hinten zogen Radovan und Stefan die Leinensäcke über die Gemälde und plauderten über Einzelheiten des Jobs wie über hübsche Mädchen, die sie im Urlaub kennengelernt hatten. Der Ausdruck auf dem Gesicht der Wachleute, der wohlproportionierte Hintern der Kartenverkäuferin, die merkwürdige Ruhe, mit der das alte Paar den Kunstraub beobachtet hatte. Dann beugte sich Stefan ohne jede Vorwarnung nach vorn und übergab sich.
    Er entschuldigte sich, aber sie hatten alle genug Erfahrung in solchen Dingen, um zu wissen, dass oft mindestens einer der Beteiligten seinen Magen nicht unter Kontrolle hatte. So etwas war keine Schande.
    In einer verwirrenden Abfolge von Kurven und Abzweigungen, die er sich vorher zurechtgelegt hatte, brachte Giuseppe die Gruppe aus dem Stadtgebiet von Zürich. Erst als sie die östliche Straße nach Tobelhof erreichten, entspannten sie sich ein wenig, und für eine kurze Minute bot sich ihnen der friedliche Ausblick auf den Wald dar, der sich zur Spitze des Zürichbergs hinaufzog. Ein Moment der Unschuld, der nicht von Dauer war. Sie passierten die verstreuten Anwesen von Tobelhof, und als sie die urbane Gegend um Gockhausen erreichten, war das Gefühl bereits wieder verflogen.
    Jenseits der Stadt gelangten sie wieder in den Wald und
fuhren nach links auf einen verlassenen Feldweg, wo nach einem knappen Kilometer auf einer Lichtung ein VW-Bus und ein Mercedes auf sie warteten. Sie stiegen aus und streckten sich. Radovan stieß einen serbischen Freudenfluch aus – »Jebote!« –, bevor sie die Bilder in den VW luden. Giuseppe verteilte einen Kanister Benzin im Inneren des weißen Lieferwagens.
    Milo holte aus dem Kofferraum des Mercedes eine weiche Lederaktentasche. Darin befanden sich kleine, gebrauchte Euroscheine im Wert von sechshunderttausend Dollar, verpackt in drei Plastiktüten. Auf eine Frage hin hätte er erklärt, dass das Geld einem Drogenhändler in Nizza abgenommen worden war, aber niemand fragte. Er dankte ihnen für ihre gute Arbeit, und alle forderten ihn auf, sie anzurufen, wenn er wieder einen Job für sie hatte. Milo wünschte Radovan Glück für seine Mutter.
    »Es hat lang gedauert«, antwortete der Serbe, »aber jetzt weiß ich, was für mich Vorrang hat. Mit dem Geld kann ich alles bezahlen, was sie braucht.«
    »Ich finde, du bist ein guter Sohn.«
    »Ja, das bin ich.« Nicht die geringste Bescheidenheit lag in seinem Ton. »Wenn ein Mann den Kontakt zu seiner Familie verliert, kann er sich gleich eine Kugel in den Kopf jagen.«
    Milo lächelte freundlich und schüttelte ihm die Hand, aber Radovan ließ nicht los.
    »Weißt du, Tante, ich mag eigentlich keine Amerikaner. Die haben meine Heimatstadt bombardiert. Aber dich – dich mag ich.«
    Milo war nicht sicher, wie er damit umgehen sollte. »Wie kommst du darauf, dass ich Amerikaner bin?«
    Ein breites Grinsen zog über Radovans Gesicht. Es war das wissende und leicht überhebliche Lächeln, das
man bei Männern vom Balkan oft beobachten konnte. »Sagen wir einfach, dein deutscher Akzent ist furchtbar.«
    »Vielleicht bin ich Engländer. Oder Kanadier.«
    Ein Lachen platzte aus Radovan hervor, und er klopfte Milo auf den Arm. »Nein, du bist schon ein Amerikaner. Aber ich mach dir keinen Vorwurf daraus.« Er griff in die Tasche und reichte Milo mit einem Zwinkern dessen abgenutzten Pass.

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