Last Exit
summen. ›Vacation‹ von den Go-Go’s.« Er war sichtlich stolz darauf, ein Stück zu kennen, das die
meisten Leute zum Zeitpunkt seiner Geburt bereits vergessen hatten.
»Stimmt«, räumte Milo ein. Dann sackte er trotz der in seinen Nervenbahnen ratternden Drogen und der hellen Anrufbeantworterstimmen in seinem Hinterkopf sofort weg.
3
Anfang November hatten sie angerufen und ihn gefragt, ob er an einer Rückkehr in den Außendienst interessiert war. »Ihre Leistungen waren ja immer hervorragend.« Dieses leicht verblüffte Lob hatte Owen Mendel geäußert – verblüfft, weil er nicht wusste, weshalb dieser fähige Tourist, der sogar schon in die Verwaltung aufgestiegen war und dort sechs Jahre gearbeitet hatte, von der Company gefeuert worden war. Offenkundig hatte Mendel nur eine stark zensierte Akte zu Gesicht bekommen. »Natürlich liegt es bei Ihnen, aber Sie wissen ja, welchen Budgetzwängen wir zurzeit unterliegen. Wenn wir erfahrene Kräfte wie Sie gewinnen, haben wir vielleicht eine Chance zur Erholung.«
Nette Ansage. Nicht die Company erwies ihm einen Gefallen, nein, er war der gute Samariter.
Sobald er Owen Mendels Stimme hörte, wusste er genau, was folgen würde. Jewgeni hatte ihn vorbereitet. »Du sagst natürlich Ja, und nach einem Auffrischungskurs stellen sie dich mit einigen Aufträgen auf die Probe. Ein paar Wochen lang. In dieser Zeit musst du dich bewähren, und wir werden keinen Kontakt haben.«
Aus den »paar Wochen« waren drei Monate geworden. Damit hatte nicht einmal der große Jewgeni Primakow gerechnet, das geheime Ohr der Vereinten Nationen. Und er hatte auch nicht damit gerechnet, was für einen Auftrag
Mendels Nachfolger Alan Drummond Milo in Berlin erteilen würde: eine letzte, unmögliche Probe.
Der Job in Zürich lag fünf Tage zurück, es war Freitag, kurz vor neun Uhr. Milo stand auf dem kalten, windigen Platz vor dem Berliner Dom. Er fühlte sich wie Matsch, und durch sein umnebeltes Gehirn spukten böse Vorahnungen. Es fiel ihm schwer, nicht wie ein Penner auszusehen. Die ganze Nacht hatte er Trost bei einem Honiglikör namens Bärenfang gesucht, aber das hatte seine Übelkeit nur verstärkt. Donnernd rollte der Stoßverkehr auf ihn zu; ein Reisebus mit Augsburger Kennzeichen bog in die Karl-Liebknecht-Straße und stoppte ein kurzes Stück entfernt mit lautem Ächzen.
Ein weißer Luftpolsterumschlag hatte auf ihn gewartet, und nachdem er ihn im Hansablick gegen ein Trinkgeld in Empfang genommen hatte, hatte er ihn auf einen langen Spaziergang, eine U-Bahn-Fahrt und einen weiteren Fußweg mit zu einer staubigen, unscheinbaren Pension in Friedrichshain genommen, einem Szeneviertel im ehemaligen Ostberlin.
Zwei Fotos zeigten aus verschiedenen Blickwinkeln ein hübsches, blond gefärbtes Mädchen mit olivfarbener Haut. Adriana Stanescu, fünfzehn Jahre alt, das einzige Kind der moldawischen Einwanderer Andrei und Rada Stanescu. Auf der Rückseite eines Bildes stand:
L0 2/15
Das Kind töten und die Leiche verschwinden lassen. Er hatte bis zum Ende der Woche Zeit.
Gleich am Montag hatte er die Instruktionen verbrannt und danach die Stanescus beschattet, um Näheres über ihr Leben herauszufinden. Rada Stanescu arbeitete bei Imperial
Tobacco, und ihr Mann Andrei fuhr an den meisten Abenden einen Wagen der Alligator Taxi GmbH. Sie lebten in Kreuzberg zwischen türkischen Familien und neureichen Deutschen, ein wenig südlich von Milos Pension.
Was war mit dem Mädchen Adriana, deren Tod beschlossen worden war? Er hatte sie auf dem Weg zur Lina-Morgenstern-Gesamtschule verfolgt, die von Deutschen und Türken besucht wurde. Er konnte nichts Ungewöhnliches feststellen.
Keine Fragen stellen – eine weitere Regel im Tourismus. Wenn ein Mädchen getötet werden soll, dann ist es eben so. Handeln genügt als Rechtfertigung.
Schlendernd näherte er sich der Kasse, wo die Bayern aus dem Bus vor Kälte in die Hände klatschten und zwischen dampfenden Atemwolken darauf warteten, dass sich der Schalter öffnete.
Jeden Morgen setzte Andrei Stanescu seine Tochter einen Block vor ihrer Schule ab. Warum brachte er sie nicht direkt hin? Weil es (das entnahm er ihrer Haltung und der Scham im Gesicht ihres Vaters) Adriana peinlich war, dass ihr Vater Taxi fuhr. Zwischen der Stelle, wo sie ausstieg, und der Schule an der Gneisenaustraße befanden sich sechs Wohnhäuser und die stets offene Einfahrt zu einem Hof. Am Nachmittag kam sie auf der gleichen Strecke zurück, immer allein.
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