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Last Exit

Last Exit

Titel: Last Exit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olen Steinhauer
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Tatsachen des Lebens, Tina.«

    »Und Tatsachen bestimmen die Grenzen unseres Verhaltens«, bemerkte Dr. Ray majestätisch. »Aber Menschen haben eigene Grenzen, die nicht von Tatsachen bestimmt werden. Die Frage ist nicht, was Sie Tina erzählen können und was nicht, sondern wie sie sich dabei fühlt und welchen Ausgleich Sie dafür schaffen können.«
    »Moment mal.« Tina war auf einmal gleichgültig, ob sie dumm klang. »Du erzählst hier, Stef und ich geraten in Gefahr, aber du warst nicht in Gefahr – das hast du am Anfang der Sitzung gesagt. Wenn du nicht in Gefahr warst, wieso sollte es bei uns so sein?«
    Er rieb sich übers Gesicht. »Das war eine Lüge, Tina. Natürlich war ich in Gefahr. Siehst du die Brandmale an meinem Arm? Jemand hat mich als Aschenbecher benutzt. Aber ich bin halbwegs heil davongekommen, und es gibt keinen Grund zur Sorge mehr.«
    Aschenbecher? Sie hatte Mühe, das Bild aus dem Kopf zu verscheuchen. »Hören Sie das? Kannst du nicht ein einziges Mal ehrlich sein? Nicht mal hier?«
    Dr. Ray ging vermittelnd dazwischen. »Tina, er versucht, ehrlich zu sein. Das ist ein echter Fortschritt.«
    Für Tina fühlte es sich nicht so an, und sie fragte sich allmählich, ob es für sie beide wirklich so gut war, dass Milo zurückgekehrt war. Diese Lüge am Anfang über die Gefahr war nur eine Kleinigkeit, so unbedeutend wie die Antwort »Gut« auf die Frage, wie es einem geht. Trotzdem kam sie ihr riesig vor. Sie drückte die Hand tief ins Sofapolster. »Das ist also ein Fortschritt? Ich weiß doch, wie ein Spion vorgeht. Das hat er mir oft genug erklärt. Tarnung ist das A und O. Er geht mit einer Tarnung irgendwohin, und wenn die Feinde merken, dass er nicht diese Person ist, hat er gleich darunter schon die nächste Tarnung parat. Er trennt sich von der ersten, kein Problem.
Wenn sie es ihm immer noch nicht glauben, hat er die dritte bereit, aber für die müssen sie sich schon gewaltig ins Zeug legen, denn sonst nehmen sie es ihm nicht ab. Und wenn er wirklich ein Ass ist, hat er darunter noch eine, die so tief reicht, dass sie praktisch seine wahre Identität ist. Wie viele Tarnschichten hast du, Milo?«
    Er wirkte schockiert über ihren Ausbruch. Oder entsetzt. »Gar keine.«
    »Aber verstehst du? Verstehst du, wie mich das verkorkst hat? Manchmal gehe ich sogar noch weiter und denke mir, vielleicht ist das besonders Geniale an ihm, dass die ursprüngliche Tarnung, die ich abgeschält und weggeworfen habe, doch die echte ist. Dass ich das, was der wahre Milo Weaver ist, schon längst hinter mir gelassen habe. Dass er irgendwo im Müll gelandet ist und ich ihn nie mehr wiederfinden werde.«
    Sie weinte jetzt und sah undeutlich, wie ihr Dr. Ray mit ihrem grazilen braunen Arm eine Schachtel Taschentücher zuschob. Sie zog eins heraus, doch statt es zu benutzen, knüllte sie es einfach sinnlos in der Hand zusammen.
    Dr. Ray nahm den Faden auf. »Hören Sie zu, Milo? Denn das ist, was Ihre Frau zu Ihnen sagt. Sie ist hier, weil sie den Milo finden will, in den sie sich verliebt hat. Das muss nicht der Milo sein, den sie gekannt hat, nur ein Milo, an den sie glauben kann.«
    Milo hörte niemandem zu.
    Durch ihre Tränen bemerkte sie, wie er sich steif aufsetzte und vor sich hin starrte. Nicht auf sie, nicht auf die Therapeutin, sondern auf irgendeinen Punkt, den nur er wahrnahm. Etwas war ihm klargeworden, hatte ihn völlig plattgewalzt. Hatte er – und bei diesem Gedanken kam sie sich auf einmal sehr unselbstständig vor – eine Erkenntnis, die ihre Ehe retten würde? Das Allheilmittel?
Nach seinem Gesicht zu schließen, hatte es fast den Anschein. Etwas Großes hatte ihn gepackt. Eine bahnbrechende Einsicht.
    »Milo?«
    Dr. Ray streckte eine Hand in Tinas Richtung aus und lehnte sich stirnrunzelnd zu Milo. »Milo, sind Sie noch bei uns?«
    Dann stand Milo auf. Zum ersten Mal, seit sie sie kannte, wirkte Dr. Ray verwirrt.
    »Was ist, Milo?«
    Tina wischte sich die Tränen ab. »Milo, Schatz, was hast du?« Sie berührte ihn am Arm, doch er schien gar nichts zu spüren.
    Dann ließ er sich schwer nach unten sinken und griff nach ihrer Hand, um sie zerstreut zu drücken. »Entschuldigung. Es tut mir leid. Mir ist gerade was eingefallen.«
    »Das ist gut«, konstatierte Dr. Ray.
    »Was?«, fragte Tina.
    »Es ist nicht …« Er schüttelte den Kopf und lehnte sich zurück. »Es geht um was anderes. Nicht um das hier.«
    »Es geht nicht um unsere Ehe? Worum dann?«
    »Um … dieses Zeug. Dieses

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