Last Exit
ihn.
Sie legte sich schlafen, und er ging ins Wohnzimmer mit seinem Merlot und einem Nicorette, das allmählich zu einer neuen Sucht wurde. Er zog die Unterlagen aus dem Umschlag und las, was sie über das Leben von Xin Zhu erzählten.
29
»Schön, Sie wieder mal zu sehen.« Dr. Bipasha Ray setzte ein strahlendes Lächeln auf, das, wie er argwöhnte, vielleicht nicht ganz aufrichtig war. Alle schüttelten sich die Hand, und trotz der feuchten Kälte draußen schlängelte sich Dr. Ray mit nackten, manikürten Füßen zu ihrem Stuhl. Wenig später war Schluss mit den höflichen Floskeln, und es begann mit der Frage: »Wie geht es Ihnen beiden?« Als sie übereinstimmend erklärten, die letzten zwei Tage seien wie Flitterwochen gewesen, schürzte die Therapeutin die Lippen. »Wie schön.« Sie musste nicht darauf hinweisen, dass es keine besondere Leistung war, zwei kümmerliche Tage durchzuhalten.
»Nun, Milo. Möchten Sie uns vielleicht erzählen, wo Sie in den letzten Monaten waren? Bei meinen wenigen Treffen mit Tina konnte sie mir nämlich nichts dazu sagen.«
»Ich könnte es Ihnen verraten, aber dann müsste ich Sie umbringen.« Er lächelte gezwungen, aber Dr. Ray fand seinen Scherz gar nicht witzig. Sie war eine der wenigen Therapeutinnen, die befugt waren, Patienten aus den Reihen der Company zu betreuen, doch sie hatte nie viel übrig gehabt für Agentenhumor, vor allem wenn es dabei um Morddrohungen ging. »Nein, ich meine einfach, dass ich ziemlich viel herumgereist bin. Viel Arbeit.«
»So viel, dass Sie sich nicht mal bei Ihrer Frau und Tochter melden konnten?«
Milos Blick glitt zu Tina, die ausdruckslos dasaß, und zurück zu Dr. Ray. »Nein, das nicht. Aber es ist gegen die Vorschrift. Es ist nicht sicher, die eigene Familie anzurufen, wenn man unter einer falschen Identität arbeitet. Damit setzt man sie und sich selbst einer unnötigen Gefahr aus.« Er ließ unerwähnt, dass er mehrere Male versucht hatte anzurufen.
»Natürlich.« Dr. Ray strich über das Knie ihrer Jeans. »Heißt das, Sie waren selbst in Gefahr?«
»Nein, nein. Das war nur eine Redensart.«
Dr. Ray nickte lächelnd. »Milo, vor einigen Monaten haben Sie zu Tina gesagt, dass die Sitzungen hier kein geeignetes Mittel zur Lösung Ihrer Eheprobleme sind. Könnten Sie das näher erläutern?«
»Ich kann mich gar nicht erinnern, dass ich das gesagt habe.«
»Doch, das hast du, Schatz«, erwiderte Tina. »Ich fand, dass es uns weiterhilft, und du warst anderer Meinung.«
Milo bekam allmählich den Eindruck, in einen Hinterhalt geraten zu sein. »Okay, vielleicht hab ich das gesagt. «
»Und was haben Sie damit gemeint?«, hakte die Therapeutin nach.
Milo rieb sich über die Arme. Irgendwie war es kalt im Zimmer. Er beschloss, offen zu bleiben, auch wenn es ein Hinterhalt war. Fürs Erste musste er darauf bauen, dass Aufrichtigkeit der Pfad der Tugend war. »Ich wollte damit sagen, dass ich nicht vollkommen ehrlich war. Bei diesen Sitzungen, meine ich.«
»Was?«, entfuhr es Tina.
»Das ist nichts Ungewöhnliches«, bemerkte Dr. Ray großzügig. »Entscheidend ist, dass Sie es zugeben. So können wir auf eine konstruktive Ebene gelangen.«
Doch Tina ließ sich nicht so leicht abspeisen. »Hast du bei den Gesprächen hier wirklich gelogen?«
»Nicht unbedingt gelogen. Ich war nur nicht immer ganz offen.«
»Tina, Milo hat vielleicht gute Gründe für diese Unterscheidung. «
»Ja, um seinen Arsch zu retten.«
»Es geht mir nicht darum, meinen Arsch zu retten, Tina.«
Sie glaubte ihm nicht. Auf der Fahrt hierher hatten sie locker miteinander geplaudert, und er fragte sich, ob sie nicht ihrerseits unehrlich zu ihm gewesen war, weil sie von der Falle wusste, die sie ihm gemeinsam mit der Therapeutin stellen wollte. Sie war wütend. »Erzähl mir nicht, dass du in der Paartherapie lügen musst, um das Wohl der Nation zu schützen. Wie viel Zeit muss eigentlich noch vergehen, bis dein Leben nicht mehr streng geheim ist? Dass es dann schon zu spät sein könnte, auf die Idee kommst du ja gar nicht.«
Er wusste kaum, wie ihm geschah.
»Tina, lassen Sie Milo reden. Milo?«
In der folgenden Stille fummelte er in einer seltsamen Solidarität mit Dr. Ray am Knie seiner Hose herum. Er zwang sich, damit aufzuhören, da er wusste, wie es aussah, wie er aussah – linkisch und nervös, ein Mann, dem man nicht vertrauen konnte.
Was war das hier schon nach allem, was er erlebt und getan hatte? Das Arbeitszimmer einer kleinen
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