Last Exit
warteten.
»Zum Beispiel die Sache, wie Sie sich nähergekommen sind – warum haben Sie da gelogen, Milo?«
»Ich würde nicht sagen, dass ich gelogen habe …«
»Eine Auslassung ist im Grunde das Gleiche.«
»Okay.« Er war inzwischen zu jedem Eingeständnis bereit. »Ich glaube, ich hatte Angst, Tinas Gefühle zu verletzen. «
»Warum?«
»Ja«, fragte Tina, »warum?«
Er musste überlegen. »Ich will nicht, dass sich Tina von mir löst. Von der Vorstellung unserer Ehe.«
»Und wie sieht diese Vorstellung aus?«
»Eben so. Wie diese Geschichte. Der Mythos, wie alles angefangen hat.« Plötzlich musste er an den Tourismus denken, der ohne seinen Mythos jeden Wert verloren hätte. Entsprach das wirklich seiner Einschätzung der Ehe mit Tina? »Nein.« Verwirrt suchte er nach Worten. »Das ist es nicht. Ich meine nur, es ist ganz egal, ob die Geschichte für uns beide stimmt. Unsere Ehe ist davon gar nicht berührt, weil es keine Rolle spielt, wie wir uns kennengelernt haben. Das Einzige, was eine Rolle spielt, ist unser gemeinsames Leben.«
Tina blinzelte. Ihre Augen waren feucht.
Dr. Ray blieb ungerührt. »Sie haben meine Frage nicht beantwortet: Wie sieht die Vorstellung von Ihrer Ehe aus?«
»Es gibt keine Vorstellung von unserer Ehe«, antwortete er. »Es gibt nur die Ehe.« Er wusste nicht, ob es das war, worauf Dr. Ray hinauswollte, aber er fühlte sich so bedrängt, dass er nicht mehr hervorbrachte.
»Stephanie.« Tinas Wort war fast unhörbar.
Beide sahen sie an.
»Das ist Milos Vorstellung von unserer Ehe. Er denkt an Stephanie, oder?«
Dr. Ray schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht Gedanken lesen. Was Milo denkt, muss er schon selbst sagen.«
Und jetzt sahen sie ihn an.
30
Tina musterte ihn gespannt, denn es fühlte sich an wie ein entscheidender Augenblick. Dr. Ray verstand etwas von ihrem Fach. Sie konnte eine scheinbar glückliche Beziehung mit ein paar gezielten Fragen zerlegen wie eine alte Karre, bis nur noch die Lüge im Zentrum übrig blieb. Oder irgendein Missverständnis.
Das war ihr schon letztes Jahr ganz am Anfang der Therapie aufgefallen, und noch mehr als Dr. Rays erotische Ausstrahlung hatte sie sich davor gefürchtet, dass sie das Falsche an ihrer Ehe entdecken und es ihnen voller Stolz unter die Nase reiben würde, um ihr Leben zu ruinieren. Und jetzt versuchte sie es wieder, trieb sie beide in die Enge, bis Tina nicht mehr anders konnte, als die naheliegende Frage zu stellen, der sich Milo nicht entziehen konnte.
Seine Wangen wurden rot. »Das ist eine idiotische Frage.«
»Ach?«
Dr. Ray blieb stumm.
Jetzt war er sauer. »Ja. Wie kann man sieben Jahre auf eine einzige Vorstellung reduzieren? Natürlich ist Stephanie eine Vorstellung in unserer Ehe, aber glaubst du wirklich, das ist die einzige? Wie steht’s mit Sex? Das ist eine ganz hervorragende Vorstellung in unserer Ehe. Und Liebe ?« Er wandte sich an Dr. Ray. »Unsere Ehe besteht aus
hundert verschiedenen Vorstellungen. Da kann ich mich unmöglich auf eine beschränken.«
»Was ist mit Vertrauen?«, fragte Dr. Ray.
»Was ist damit?«, entgegnete er albern.
»Natürlich setzt sich eine Ehe aus vielen verschiedenen Vorstellungen zusammen, aber sie haben ihren eigenen Biorhythmus. Manche kommen zu bestimmten Zeiten zum Vorschein. Wenn Sie Tina zuhören, dann merken Sie, dass für sie Vertrauen oft die Hauptvorstellung ist. Ihr fehlendes Vertrauen, genauer gesagt. Tina – gebe ich Ihre Gefühle falsch wieder?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Tina hat das Gefühl, als wäre ihr ein großer Teil Ihres Lebens verschlossen.«
»Deswegen habe ich meinen Job gekündigt«, erwiderte Milo.
»Ein ausgezeichneter Schritt«, konstatierte die Therapeutin. »Aber was heißt das? Heißt es, dass sie von jetzt an ihren Mann kennenlernt? Das ist unmöglich, wenn Sie ihr auch weiter nichts über Ihre Vergangenheit erzählen können. Sie haben vielleicht gekündigt, aber die letzten vierzehn Jahre Ihres Lebens gehören immer noch Ihrer Arbeit. Wir sind das Ergebnis unserer Geschichte, Milo, nicht das unserer Gegenwart.«
Das ging Milo voll gegen den Strich. Sie sah es an den Rändern seiner schwerlidrigen Augen, an den geröteten Wangen, am schnellen Zucken seiner Zunge. »Jetzt soll ich also die Geschichtsbücher aufschlagen? Dann lande ich im Knast und setze Tina und Stephanie einer ernsten Gefahr aus.«
»Sehen Sie, was ich meine?«, platzte es aus Tina heraus. »Schon wieder diese Staatsgeheimnisse.«
»Das sind
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