Last Exit
Psychologin in Long Island. Aber verdammt, es fühlte sich an wie eine dieser Zellen im neunzehnten Stock, wenn John schlechte Laune hatte.
»Zum Beispiel …« Verzweifelt suchte er nach etwas, das sich nicht um Mord, Entführung oder Raub drehte.
»Die Geschichte, wie wir uns verliebt haben. Im September, bei einer der ersten Sitzungen haben wir darüber gesprochen. Erinnerst du dich?«
Tina nickte. »Natürlich erinnere ich mich.«
»So ist es aber nicht gewesen. Zumindest nicht für mich. Ich hab das nie verstanden – was soll das überhaupt heißen, dass wir uns verliebt haben beim Anblick der einstürzenden Twin Towers? Mir völlig schleierhaft.«
»So hab ich es empfunden. Ich werd mich bestimmt nicht für meine Gefühle entschuldigen, Milo.«
»Richtig, Tina. Für unsere Gefühle sollten wir uns nie entschuldigen. Milo, erzählen Sie uns mehr. Wir hören Ihnen zu.«
Wieder schaute er beide Frauen an; er konnte förmlich spüren, wie der Abstand zwischen ihm und ihnen größer und größer wurde. Er fand, dass das genaue Gegenteil von dem passierte, was eine Therapie bewirken sollte. »Was ich sagen will, ist, es hat nicht mit Liebe angefangen. Ich war verzweifelt damals. Mein Leben war den Bach runtergegangen, und ich hab verzweifelt Ausschau gehalten nach jemandem, an den ich mich klammern konnte. Und da war sie – Tina, meine ich – und hat auf der Straße direkt vor mir ihre Wehen bekommen. Ich hab jemanden gebraucht, und Tina war zum richtigen Zeitpunkt da.«
»Na toll.«
»Tina, lassen Sie ihn ausreden. Milo?«
»Als ich neben Tinas Bett aufgewacht bin und wir im Fernsehen diese Katastrophe verfolgt haben, war ich vor allem verwirrt. Ich habe mich keinem Menschen nahe gefühlt, niemandem. Du warst da und hast dich an mir festgehalten, aber für mich war es, als wäre ich allein in diesem Krankenzimmer.«
»Allein, ich verstehe. Ich hab mich verliebt, und du hast nichts gefühlt, nur Kälte.«
»Versteh mich nicht falsch, die Liebe ist schon gekommen. Aber erst mit der Zeit. Und mit Stephanie.«
»Stephanie?« Dr. Ray klang, als hätte er zum ersten Mal nach Monaten etwas Interessantes von sich gegeben. »Was meinen Sie damit?«
»Nicht dass mir bei ihrem Anblick das Herz zerflossen ist, nicht ganz. Ich hab nur gemerkt, dass mir zum ersten Mal im Leben ein Mensch begegnet ist, der nichts Böses tun kann. Babys sind so. Nichts ist ihre Schuld. Wenn sie weinen oder toben oder mir in die Hände scheißen, dann ist das nicht ihr Fehler, sondern meiner. Das ist kein sentimentales Gerede, sondern eine Tatsache. Ehrlich gesagt, das hat mich richtig umgehauen. Dass ein Mensch so vollkommen rein und harmlos sein kann. Für mich war das ganz neu. Ein Schock. Ich wollte diesem unschuldigen Wesen nahe sein, es beschützen.«
Dr. Ray machte sich an eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen: Sie fasste die Ausführungen eines Klienten zusammen. »Man könnte also sagen, dass Sie sich zunächst in Ihre Tochter verliebt haben und erst danach in Ihre Frau.«
»Ja, vermutlich.«
»Tina? Möchten Sie sich dazu äußern?«
Tina starrte Milo mit ausdruckslosem Gesicht an.
»Tina?«
Tina riss die Hände hoch, und als sie sie mit einer Geste der Ohnmacht wieder sinken ließ, standen ihr Tränen in den Augen. »Das ist genau das, wovon ich die ganze Zeit rede. Er hat sich also in Stephanie verliebt. Wie kommt es, dass ich davon noch nie was gehört habe? Verdammt, Milo. Wie oft hab ich diese Geschichte erzählt?
Warum hast du mich nicht schon vor Jahren gebremst? Dann hätte ich mich nicht so zum Trottel gemacht.«
Dr. Ray ging dazwischen. »Ich glaube nicht, dass Sie sich zum Trottel gemacht haben. Milo?«
»Natürlich nicht«, bestätigte er.
»Ich möchte Ihnen jetzt was sagen.« Dr. Ray legte eine Kunstpause ein. »Tina, hören Sie mir zu. Ich möchte, dass Sie beide aufmerksam zuhören.«
»Klar«, murmelte Tina.
Auch Milo signalisierte sein Einverständnis mit einem »Okay«.
»Wir haben uns zwar nicht so regelmäßig getroffen, wie wir alle es gern gehabt hätten, aber ich habe inzwischen ein gewisses Gespür für die Dynamik zwischen Ihnen beiden. Wahrscheinlich ist Ihnen aufgefallen, dass ich oft das Wort ›zuhören‹ benutze. Das liegt nicht daran, dass ich eine besonders rührselige Therapeutin wäre. Ich benutze es, weil es hier ein Thema ist. Sie hören einander nicht zu. Warten Sie, Milo.« Sie hob einen Finger. »Sie hören die Worte, aber nicht das, was mitschwingt.«
Milo und Tina
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