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Last Exit

Last Exit

Titel: Last Exit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olen Steinhauer
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tatsächlich zugehört hatte.
    Manchmal gehe ich sogar noch weiter und denke mir, vielleicht ist das besonders Geniale an ihm, dass die ursprüngliche Tarnung, die ich abgeschält und weggeworfen habe, doch die echte ist. Dass ich das, was der wahre Milo Weaver ist, schon längst hinter mir gelassen habe. Dass er irgendwo im Müll gelandet ist und ich ihn nie mehr wiederfinden werde.
    Wie war es zu dieser Gedankenassoziation gekommen? Er war sich nicht sicher. Wahrscheinlich hatte ihn das Wort »genial« auf Xin Zhu gebracht, den er immer noch zutiefst bewunderte. Der Chinese spukte ihm sowieso im Kopf herum, und in den letzten Tagen waren ihm immer wieder spontan Bruchstücke aus Jewgenis Dossier eingefallen. So wohl auch mitten in der Paartherapie bei der Erwähnung des Wortes »genial«. Tinas Bemerkung hatte den Keim gelegt: Ein Genie erzählt einem die wahre Geschichte mit der ersten Tarnschicht, und wenn man sie verworfen hat, kommt sie nicht mehr in Frage.
    Dann erinnerte er sich an eine andere Äußerung von ihr: Wie viel Zeit muss eigentlich noch vergehen, bis dein Leben
nicht mehr streng geheim ist? Dass es dann schon zu spät sein könnte, auf die Idee kommst du ja gar nicht.
    Zeit. Zu spät.
    Das Gegenteil: zu früh.
    Er dachte an Marko Zubenko und sein Gelage mit Xin Zhu. Am siebten Februar, dem chinesischen Neujahr.
    Aber eins konnte sich Zhu nicht erklären, und das hat ihn gewurmt. Dieser Weaver. Er hat die ganze Sache aufgedeckt, und deswegen waren alle hinter ihm her. Der Heimatschutz hat ihn wegen Mordes gesucht. Die Company wollte ihn aus dem Verkehr ziehen, damit die Geschichte nicht rauskommt. Aber dieser Mann, so Zhu wörtlich, lebt immer noch, als wäre nichts passiert. Das hat ihn wirklich verwirrt. Er sagt, Weaver war zwei Monate im Gefängnis, und seine Ehe ist zerbrochen, aber er hat es überstanden. Und jetzt atmet und lebt er nicht nur, nein, er ist sogar wieder für seinen früheren Arbeitgeber tätig. Zhu hätte brennend interessiert, wie der das geschafft hat.
    Dann Henry Gray am zweiten März.
    In der letzten Woche haben wir Riesenfortschritte gemacht …
    Was für Fortschritte?
    Na, zum Beispiel haben wir erfahren, was mit Ihnen passiert ist.
    Und was ist mit mir passiert?
    Immerhin haben Sie überlebt. Aus Graingers Brief wussten wir, dass Sie Nachforschungen anstellen, aber wir waren nicht sicher, ob Sie dabei auf der Strecke geblieben sind oder nicht. Schließlich wollten doch alle Ihren Arsch. Nach dem Gefängnis sind Sie nach New Jersey gezogen – doch dann sind Sie verschwunden, und wir haben erst diese Woche erfahren, dass Sie tatsächlich noch leben.
    Wie haben Sie das rausgefunden?
    Fragen Sie Rick. Er ist mit dieser Nachricht angekommen.

    Der Zeitablauf stimmte nicht. Xin Zhu wusste bereits von Milos Rückkehr zum Tourismus, aber er hatte bis letzte Woche gewartet, um Gray davon in Kenntnis zu setzen.
    Zu Xin Zhus Technik gehörte es, sich als jemand zu präsentieren, den sein Gegenüber sympathisch fand. Für Gray spielte er den ernsten, zornigen Spion. Für Zubenko trat er als Trinker und Schürzenjäger auf. Und wie war es bei Milo? Denn Xin Zhu war ihm sympathisch: ein brillanter Meisterspion mit feinem Sinn für Humor, eine Eigenschaft, die diesem Geschäft sonst völlig fehlte. Und wenn auch Milos Zhu nicht der echte war?
    Doch auf solche Ideen wäre er nie verfallen, wenn er nicht die sorgfältig zusammengestellte Akte gelesen hätte, die sein Vater in die Wohnung geschmuggelt hatte. Wie sich zeigte, wusste Jewgeni viel mehr über Xin Zhu als Drummond, und Milo war bis vier Uhr früh aufgeblieben, um nachzulesen über diesen siebenundfünfzigjährigen Mann aus Xianyang nahe der antiken Stadt Xi’an, der von der Kulturrevolution mitgerissen und dann verschlungen worden war, als er mit seiner Mittelschulbildung zur Aufs-Land-Bewegung stieß und bis 1974 fünf Jahre seines Lebens mit dem Anbau von Weizen in der Mongolei vergeudete. Er überlebte und arbeitete nach seiner Rückkehr zunächst für die Sicherheitspolizei und ab den achtziger Jahren für den Guoanbu. 1982 heiratete er Qi Wan (1960 – 1989), und in diesem Jahr wurde auch sein einziges Kind geboren: sein Sohn Delun (1982 – 2007).
    Nach zweijähriger Arbeit in Bonn verbrachte er drei Jahre unter verschiedenen Namen in Moskau und jeweils zwei weitere in Jerusalem und Teheran. 1993 kam er wieder nach Peking und übernahm eine Position im für Spionageabwehr zuständigen Sechsten Büro, wo er immer

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