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Last Exit

Last Exit

Titel: Last Exit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olen Steinhauer
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Toilettensachen sowie die beiden Kleidergarnituren weggeworfen, die er im KaDeWe gekauft hatte. Egal, was passierte, er wollte noch heute aus dieser verdammten Stadt verschwinden. Um sicherzugehen, dass niemand in der Avenue of the Americas seinen verräterischen Weg nachvollzog, hatte er sein Telefon zerlegt.
    Jetzt war es neun, und die Augsburger aus dem Bus tröpfelten allmählich in die Kirche.
    Er trat zur Kasse. Die alte Verkäuferin, die schon in Berlin gelebt hatte, als die Stadt noch ein neunhundert Quadratkilometer großer Schutthaufen war, schielte ihn misstrauisch an, als er seinen Wunsch äußerte, den Dom zu besichtigen. Er sah so verkatert aus, wie er war, doch sein Fünfeuroschein war neu.

4
    Irgendwie hatte es Jewgeni Primakow vor ihm in die kalte Kirche geschafft, obwohl Milo unmittelbar nach dem letzten Bayern eingetreten war. Der Alte stand unter einem Fenster und einem Kuppelmosaik mit der Aufschrift Selig sind, die reinen Herzens sind. Milos alkoholgetrübte Augen konnten die Worte nicht entziffern, aber er kannte den Dom von früheren Besuchen.
    Sein Vater würdigte ihn keines Blickes. Die langen, knotigen Hände hinter dem Rücken verschränkt, spähte er zu dem Gemälde hinauf. Seit ihrer letzten Begegung waren fünf Monate vergangen, und Jewgeni Primakow hatte sich nicht im Geringsten verändert. Dünnes weißes Haar, schmächtige Gestalt, dichte Augenbrauen und eine Tendenz, mit dem Zeigefinger der linken Hand nach der Wange zu hacken. Wieder ein teurer Maßanzug, der wohl für sein offizielles Amt bei den Vereinten Nationen unverzichtbar war. Milo war größer und hatte einen dunklen Teint. Trotz der schwerlidrigen Augen, die er von seinem Vater geerbt hatte, konnte er sich nicht vorstellen, so zu altern.
    Genau wie jetzt waren sie mit dem letzten Treffen ein unverantwortliches Risiko eingegangen. Eine Woche nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis war Milo spätnachts betrunken und frustriert aus dem Fenster seines Apartments in Newark geklettert, die Feuerleiter hinuntergestiegen
und in das Gebäude gegenüber geschlichen, wo sich sein Rund-um-die-Uhr-Schatten verschanzt hatte. Er kannte das Gesicht des jungen Agenten – er war ihm seit dem Bus vom Gefängnis gefolgt – und wusste, für wen er arbeitete. Mit einem Schraubenzieher und einem selbst gebastelten Dietrich öffnete er die Wohnungstür und fand ihn dösend auf einer Pritsche unter dem offenen Fenster. Neben sich hatte er eine Videokamera mit einem Stapel Bänder und ein Richtmikrofon. Auf dem Boden waren Fastfood-Behälter und Pappbecher verstreut. Er setzte dem Jungen den Schraubenzieher an den Hals und sprach ihn leise an: »Bestell dem russischen Schweinehund, dass ich ihn in den nächsten achtundvierzig Stunden treffen will.«
    »Äh … was für ein Russe?«, keuchte der Agent.
    »Der, der deine Strippen zieht. Der, von dem nicht mal die UN weiß, dass er für sie schnüffelt und spioniert. Ruf ihn an und sag ihm, er soll mir alles über den Senator beschaffen. «
    »Was für einen Senator?«
    »Der, der mich um meine Familie gebracht hat.«
    Fünfunddreißig Stunden später hatte ihn Primakow in demselben dreckigen Zimmer getroffen, wie immer piekfein gekleidet, und seine Einschätzung des Politikers kritisiert. »Nein.« Jewgeni sprach russisch. »Du hast dich selbst um deine Familie gebracht, weil du gelogen hast.« Doch die Akte über Senator Nathan Irwin hatte er trotzdem dabei.
    Nicht, dass Milo viel daraus erfahren hätte, was er nicht ohnehin schon wusste. Jemand wie Irwin trug dafür Sorge, dass die wesentlichen Einzelheiten seines ansonsten öffentlichen Lebens privat blieben. Der Senator war der Drahtzieher des sudanesischen Desasters im letzten Jahr –
der Mord an einem muslimischen Geistlichen, der Unruhen mit über achtzig Todesopfern nach sich gezogen hatte –, und sein verzweifeltes Bemühen, das Ganze zu vertuschen, hatte noch weitere Menschen das Leben gekostet, unter anderem zwei enge Freunde Milos, und Milo ins Gefängnis gebracht. »Kann sein, dass der Mann auf deiner Hassliste ganz oben steht«, meinte Jewgeni, »aber deswegen ist er noch lange nicht für alle Enttäuschungen in deinem Leben verantwortlich.«
    Jetzt, fünf Monate später, starrte der Alte hinauf zu dem Gemälde, an dem er Gefallen gefunden hatte, und sprach, wieder auf Russisch, scheinbar mit den Figuren. »Ich habe nachgeforscht. Könnte ein Racheakt gegen den Onkel sein. Der Bäcker. Du hast ihn nicht überprüft,

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