Last Exit
einem Schreibtisch genommen hatte. »Einer tötet einen anderen, aber wer bringt den Ersten um?«
Niemand machte sich die Mühe, ihm zu antworten.
Im Großraumbüro riefen Reiseberater verzweifelt in den Hotels von Weltstädten an und fragten nach Leuten, die weder auf ihr Zimmertelefon noch auf ein Klopfen an der Tür reagierten. Sie wussten, was totale Stille bedeutete.
Hanoi, Jerusalem, Moskau, Johannesburg. London, Kairo, Tokio, Mexiko-Stadt, Seoul, Dhaka, Neu-Delhi, Brasília, Sankt Petersburg, Buenos Aires, Taschkent, Teheran, Vancouver, Phnom Penh, Bern.
In Kairo kam es nicht zu einem Aufeinandertreffen von Punkten. Nur ein roter Punkt im Kasr al-Madina Hotel, der blau erstarrte. Milo bat Drummond, Bern heranzuzoomen. Mit einem traurigen Lächeln bemerkte er, dass Peter Schiffer, früher als James Einner bekannt, in Marians Jazzroom an der Engestraße war.
Milo setzte sich an einen anderen Computer, um die Website des Clubs herauszusuchen. Er rief an, und nach drei Tönen hob eine Frau ab. Im Hintergrund trötete eine Posaune. Auf Deutsch erklärte er ihr, dass es sich um einen Notfall handelte. Die Frauen von zwei Männern im Club waren bei einem Unfall schwer verletzt worden. Konnte er bitte mit Peter Schiffer und James Einner sprechen? Die Frau zögerte. »Wir sind brechend voll.«
»Wirklich«, beteuerte Milo. »Es ist dringend.«
Er hörte, wie sie die Namen ausrief. Eine kurze Unterbrechung der Musik sorgte dafür, dass ihre Stimme durch den kleinen Club drang, den Milo so gut kannte. Nach mehreren Minuten meldete sie sich wieder. »Tut mir leid, sie sind nicht hier.«
»Sind Sie sicher?«
»Ja, Mann. Ganz sicher.«
Doch er war da, in der hinteren Ecke. Er wollte nur nicht antworten. Hielt sich genau an seine Order. Zu genau. »Noch eine Bitte.«
»Schnell, wenn’s geht.«
»Schreiben Sie bitte eine Nachricht auf. Die zwei sind bestimmt da. Geben Sie sie beiden.«
»Wie lautet die Botschaft?«
»Myrrhe.«
»Was?«
Er buchstabierte es. »Und setzen Sie meinen Namen darunter. Milo Weaver.« Wieder buchstabierte er.
Dann kehrte er zu den anderen zurück, die in Drummonds Büro gebannt verfolgten, wie Punkte die Farbe wechselten. Irwin saß auf einem Stuhl, das Gesicht in den Händen vergraben. Drummond führte verzweifelt Buch. Klein und Jones standen etwas im Hintergrund und beobachteten das Ganze mit distanziert ironischer Miene, doch es lag kein Humor in der Stimme der Agentin, als sie das Wort ergriff. »Jetzt sind es siebzehn. Da, in Brasília, Nummer achtzehn.« Sie starrte Milo an. »Und das alles, weil der Sohn von jemand gestorben ist?«
Er antwortete nicht. Auch die anderen blieben stumm.
Milo stellte sich neben Drummond, der jedes Mal ein leises Wimmern von sich gab, wenn ein Punkt blau wurde. Manchmal zoomte er zurück, bis sich zeigte, dass die roten Flecken in aller Welt allmählich von den blauen verdrängt wurden. Die Waage neigte sich, die Blauen gewannen, und der brutale Vormarsch der Farbe kam nicht zum Stillstand. Milo behielt die Schweiz im Auge. Bern.
Rot.
Rot.
Rot.
Während er angestrengt hinstarrte, fiel ihm eine der albernen Tourismusregeln ein, die aus seiner Feder stammten:
Das Scheitern ist einem Touristen vertrauter als die eigene Mutter.
Das war der Satz, den Peter Schiffer alias James Einner in diesem Moment las.
Er saß in Marians Jazzroom auf der weichen, violetten Couch an der rückwärtigen Wand und achtete kaum auf das Trio auf der Bühne – Schlagzeug, Bass, Posaune. Mit zusammengekniffenen Augen las er in dem Büchlein, dem er zwei Monate lang nachgejagt war. Malmö, Toulouse, Mailand. Jetzt Bern, wo das Schulheft genau hinter diesem Platz versteckt gewesen war.
Er hatte es entdeckt, bevor sich der Club für die Vorstellung um halb acht füllte, und war so beschäftigt mit seiner Suche, dass ihn nicht einmal der vor einigen Stunden eingegangene Auftrag – L: Zachary Klein, kommt zu Ihnen ins Belle Epoque. Totale Stille – beunruhigt hatte. Zwar hatte er befehlsgemäß sein Telefon zerlegt, aber er hatte keine Lust im Hotel herumzusitzen, wenn das Schwarze Buch in Reichweite war.
Jemand wusste von seiner Anwesenheit – die Barfrau hatte seine beiden Arbeitsnamen ausgerufen –, aber auch das zählte nicht. Er bewahrte seine totale Stille und las weiter, während die Frau in grober Manier das Solo der Posaune überschrie. Kurz glitt Einners Blick über ihr gereiztes Gesicht (anscheinend war die Person, mit der sie sich am Telefon
Weitere Kostenlose Bücher