Last Exit
ihren Atem. Er schob ihre Lider nach oben – die Augen waren blutunterlaufen, aber in Ordnung. Ihre Bewusstlosigkeit würde höchstens zehn Minuten dauern.
Mit ihrem schlaffen Körper auf einem Arm öffnete er den Kofferraum, um sie hineinzulegen. Schnell klebte er ihr mit Isolierband den Mund zu und fesselte sie an Händen und Füßen. Als er fertig war, machte er einen Fehler: Er zögerte, um sie noch einmal anzuschauen. Beim Anblick ihrer in den engen Raum gefalteten Gestalt drehte sich ihm der Magen um. Sofort knallte er den Deckel zu und lief zur Fahrerseite. Er riss die Tür auf und warf sich über den Sitz. Erst nach einer Weile war er sicher, dass sein Magen mehr Standfestigkeit zeigen würde als der von Stefan vor einigen Tagen.
Seit seinem ersten Entschuldigung waren zwei Minuten vergangen.
Rückwärts setzte er aus dem Hof, wendete an der nächsten Ecke und fuhr Richtung Süden. An der Kreuzung Gneisenaustraße und Mehringdamm passierte er ein Alligator-Taxi. Hinterm Steuer saß Andrei Stanescu und blickte auf die Uhr. Im Rückspiegel beobachtete Milo, wie sich der Opel langsam auf die Fahrbahn schob und einen gleichmäßigen Abstand zu ihm hielt.
Nach einer Viertelstunde erreichte er die Langparkzone am Flughafen Tempelhof. Zu diesem Zeitpunkt war Adriana bereits wach, wie er es erwartet hatte, auch wenn er auf der schnellen Fahrt über die B96 nichts von ihr gehört hatte. Erst als er am Eingang abbremste, um sich ein Parkticket zu holen, waren die Tritte gegen die Wände ihres kleinen Käfigs deutlich vernehmbar. Sofort spielte sein Magen wieder verrückt, aber er riss sich zusammen. Als er den Wagen abgestellt hatte, kamen ihm die Geräusche von hinten unnatürlich laut vor. Er stieg aus, ohne den Schraubenzieher aus der Zündung zu ziehen, und ließ den Wagen unverschlossen. Rasch trat er zum Kofferraum und zog seine Brieftasche heraus, die er durchblätterte,
als würde er Geld zählen. Dabei sagte er auf Deutsch: »Adriana, hab keine Angst. Dir wird nichts passieren. In ein paar Minuten kommt jemand, der dich da rausholt. Geh einfach mit. Er wird dich beschützen.«
Ohne das Isolierband hätte ihm Adriana Stanescu vielleicht deutsche oder ausgesuchte moldawische Flüche entgegengeschleudert, so aber hörte er nur ein unartikuliertes Stöhnen und drei harte Tritte ihrer gefesselten Füße gegen den Kofferraumdeckel. Dann lief er los, um einen Shuttlebus zum Flughafen zu erreichen, der gerade an einer nahe gelegenen Haltestelle stoppte. Unmittelbar hinter der Station hatte sich der Opel auf einen freien Platz geschoben, doch der Motor lief noch. Als Milo auf den Bus zurannte, setzte der Wagen wieder zurück. Er marschierte bis in den hinteren Teil des Busses und beobachtete, wie ihm die Limousine zum Flughafen folgte.
6
Milo hatte fast damit gerechnet, dass es schiefgehen würde. Aber da die Reisepläne jedes guten Touristen häufig durcheinandergeworfen werden, waren ihm Fehlschläge ziemlich egal. Irgendwie wünschte er sich sogar zu scheitern – vielleicht am Ticketschalter des Flughafens (wären die Tickets von einem Menschen ausgegeben worden) oder auf dem Parkplatz (hätten die deutschen Beschatter zuerst das Auto untersucht, bevor sie dem Bus nachfuhren). Wenn ihn ein Scheitern aus der Bahn warf, konnte er das sinnlose Spiel beenden. Nicht nur diesen Auftrag, sondern alle Aufträge. Für immer.
Aber es ging nicht schief. Die Deutschen folgten ihm zum fast leeren Flughafen – er sollte noch in diesem Jahr geschlossen werden – und machten sich Notizen, als er sich ein Ticket für den nächsten Flug kaufte, der nach Dortmund ging. Seine Identität als Sebastian Hall war zu wichtig für sein Überleben, um sie hier aufs Spiel zu setzen, daher griff er auf seinen Notfallausweis zurück: einen britischen Pass, der seinen Namen als Gerald Stanley angab, wohnhaft in Gloucester.
Sie beobachteten, wie er auf den Abflug um 18.50 Uhr wartete. Er wusste, dass inzwischen drüben auf dem Parkplatz sein Vater neben dem BMW parkte und mit Hilfe einiger Freunde das zappelnde Mädchen in einen anderen Wagen verfrachtete, um ihr Leben zu retten.
Noch bevor er an Bord der Maschine ging, gaben es seine Überwacher auf. Er vermutete, dass sie den BMW überprüfen wollten, aber der war inzwischen leer.
Doch kaum saß er im Flugzeug und rollte auf die alte Startbahn zu, verflog seine Gewissheit. Würde Jewgeni sein Versprechen halten? Es war eine große Verantwortung, das Mädchen einen Monat lang
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