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Last Exit

Last Exit

Titel: Last Exit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olen Steinhauer
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belästigenden Anrufen, mit
unerbetenen Besuchen um vier Uhr morgens oder mit dem Erscheinen am Arbeitsplatz der ehemaligen Liebsten, so wie es Milo gerade machte. Aber Selbstgerechtigkeit hatte nie zu Milo Weavers Repertoire gehört. Wenn Tina also jetzt herauskam und ihn zum Verschwinden aufforderte, würde er es ohne Widerrede tun – da war er sich völlig sicher. Selbstgerechtigkeit ergab sich aus der Überzeugung, dass einem etwas zustand vonseiten einer anderen Person; doch Milo war nicht der Ansicht, dass ihm irgendjemand etwas schuldete.
    Geheimnisse – das war sein Vergehen gewesen.
    Unter anderem hatte er ihr die Identität seiner leiblichen Eltern verschwiegen. Jewgeni Alexandrowitsch Primakow und Ellen Perkins. Der eine ein sowjetischer Spion aus Moskau, bei dem Milo in seiner Teenagerzeit mehrere Jahre gelebt hatte; die andere eine Frau, die sich 1979 in einem deutschen Gefängnis das Leben genommen hatte und die je nach Perspektive als marxistische Terroristin, als geistesgestörte Nomadin oder – aus Milos Sicht – als Gespenst beschrieben wurde.
    Milos Lügen (oder großzügiger: Auslassungen) wären vielleicht noch erträglich gewesen, wenn er sie schließlich selbst gestanden hätte, aber das hatte er nicht getan. Tina hatte die Wahrheit von Fremden erfahren, und diese Demütigung hatte sie überfordert.
    Daher war es seine Schuld, und er hatte keinen Anspruch auf eine Versöhnung. Für diese Erkenntnis brauchte er keinen Eheberater.
    Doch als er kurz nach halb sechs beobachtete, wie sie mit dem Telefon am Ohr die Eingangsstufen heruntertrabte, musste er sich beherrschen, um sich nicht auf sie zu stürzen und sie zu kidnappen. Das war seine Touristenseite, die sich etwas Ersehntes einfach nahm. Er folgte
ihr um die Ecke zum Auto, wo sie das Gespräch beendete und sich ans Steuer setzte. Rasch lief er hinüber und tauchte an ihrem Fenster auf. Sie hatte den Blick gesenkt, um den Motor anzulassen, also klopfte er an die Scheibe. Sie drehte sich um und stieß einen erschrockenen Schrei aus.
    Für einen Moment waren beide wie versteinert. Der Motor brummte, und sie starrte ihn an, die grünen Augen auf komische Weise aufgerissen, die weichen Lippen offen, eine Hand über dem Herzen wie bei einem Treueschwur. Er fragte sich, ob er sich verändert hatte, ob ihn die letzten drei Monate gezeichnet hatten. Er wusste, dass er abgenommen hatte, und wünschte sich in einer Anwandlung von Eitelkeit, dass ihn das attraktiver machte. Er hoffte – später kam ihm dieser Gedanke geradezu lächerlich vor –, dass der Mann, den sie sah, ihr Begehren weckte. Umgekehrt traf das auf jeden Fall zu.
    Sie machte nicht die Tür auf, sondern ließ das Fenster herunter – so schnell gab sie nicht nach. »Scheiße, Milo. «
    »Hi.«
    »Na was?«, fragte sie. »Bist du länger in der Stadt?«
    »Eigentlich nicht. Nur ein paar Stunden. Um dich zu besuchen.« Als sie nicht antwortete, überlegte er, dass er sie lieber nicht so überrumpeln sollte, und fügte hinzu: »Wenn du damit einverstanden bist.«
    »Ja, sicher.«
    »Musst du Stef abholen?«
    »Mom ist hier, sie kümmert sich darum.« Sie zögerte. »Wolltest du sie sehen?«
    Nach nichts sehnte er sich mehr, als seine Tochter zu sehen, diesen einzigen Funken Technicolor in seiner Graustufenexistenz. Trotzdem schüttelte er den Kopf. »Wahrscheinlich
keine gute Idee. Ich muss bald wieder weg. Ich will sie nicht aufregen.«
    Er hoffte, dass ihr sein rücksichtsvolles Benehmen auffiel. Ganz anders als letztes Jahr, als er verlangt hatte, dass sie mit ihm untertauchten. »Also, ich will dich nicht aufhalten. «
    »Steig ein.« Sie drückte auf den Knopf, um die Türen zu entriegeln. »Ich kann dich irgendwo absetzen.«
    Schnell rannte er zur Beifahrerseite, bevor sie es sich anders überlegen konnte.
    Früher hatte immer er am Steuer gesessen. Das hier war ihr Platz, und hinten zappelte Stephanie herum und stellte vorwitzige Fragen. Ihm wurde bewusst, dass er sie nur selten beim Fahren beobachtet hatte, und er war beeindruckt, wie mühelos sie sich aus der Parklücke schob. Offenbar kam sie bestens ohne ihn zurecht.
    »Wie geht’s der kleinen Miss?«
    »Ganz gut.« Tina stockte und schüttelte den Kopf. »Na ja, nicht richtig gut. Sie knackt mit den Fingern.«
    »Von wem hat sie das denn?«
    »Sie weiß nicht mal, dass sie es macht. Ein nervöser Tick.«
    Sechsjährige sollten eigentlich keine nervösen Ticks haben. Milo dachte an seine Pillen. »Sie spürt die Unruhe zu

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