Last Exit
Einschätzung mit der bulgarischen orthodoxen Kirche Heiliger Zar Boris der Täufer in Neukölln in Einklang zu bringen. Sie stand weit hinten, und schwerer
Weihrauchduft erfüllte den schummrigen Raum, während ein weißbärtiger Mann mit schwarzer Mütze und Robe die Messe intonierte. Die Gläubigen schienen auf ihre betend gefalteten Hände konzentriert, und die meisten von ihnen standen ebenfalls. Zumindest hatte sie so das Gefühl, besser in der Menge zu verschwinden.
Schon früh hatte sie die Stanescus erspäht. Zusammen mit Adrianas Onkel Mihai befanden sie sich fast ganz vorn. Andere bleiche Kirchgänger hatten sie umarmt, um ihnen Trost zu spenden, und ihr wurde unwillkürlich warm ums Herz. Hier spielte es offenbar keine Rolle, dass die Stanescus keine Bulgaren waren; sie waren einfach trauernde Eltern, denen in ihrer Not jeder beistehen wollte.
Rasch verscheuchte sie den ablenkenden Gedanken und trat vor, um bessere Sicht zu haben. Sie war sich nicht sicher, was sie hier in der Kirche zu entdecken hoffte, aber sie arbeitete schon so lang in ihrem Gewerbe, dass sie immer damit rechnen konnte, ein bekanntes Gesicht zu erblicken. Doch keiner der Anwesenden war in ihrem umfassenden Gedächtnis abgespeichert, und so verließ sie schließlich das Gotteshaus.
Draußen an der kühlen Morgenluft steuerte sie auf Hans Kuhn zu, der beim Auto wartete. Auf dem Fahrersitz klopfte Oskar im Takt einer Hip-Hop-CD, die er mitgebracht hatte, aufs Lenkrad.
Als endlich die Gemeindemitglieder heraus auf den Gehsteig strömten, hatten sie und Kuhn an einem nahe gelegenen Stand jeweils zwei Kaffee getrunken, und sie hatte darüber hinaus zwei Käsewürste verspeist. Sie schickte Kuhn voraus, damit sie sich noch das Fett vom Kinn wischen konnte.
Er kam mit allen drei Stanescus zurück. Andrei und Rada waren kleingewachsen und schienen vor Erikas
massiger Gestalt noch weiter zu schrumpfen. Beide waren schwarz gekleidet, ebenso wie Mihai, der als Einziger trockene Augen hatte.
Er war es auch, der zuerst das Wort ergriff. »Lassen Sie sie doch endlich in Ruhe. Sehen Sie nicht, dass sie schon genug durchgemacht haben?«
Als hätte sie ihn nicht gehört, stellte sich Erika den Eltern vor und streckte ihnen die Hand entgegen, eine Geste, die nur ein unhöflicher Mensch ausgeschlagen hätte. Andrei und Rada waren nicht unhöflich. Mihai hingegen ignorierte ihre Hand und fuhr fort: »Erst gestern haben sie die Leiche ihrer Tochter in Empfang genommen. Meine Nichte! Haben Sie keinen Respekt?«
»Wir haben neue Informationen.« Sie zog ein ausgedrucktes Bild von der Videokassette heraus, das in Pullach aufbereitet und ihr am Morgen per E-Mail zugeschickt worden war. »Kennen Sie diesen Mann?«
Voller Entschlossenheit schnappte sich Mihai die Aufnahme. Kopfschüttelnd reichte er sie nach einer Weile an Andrei weiter und knurrte etwas auf Moldawisch. Weder Mutter noch Vater konnten etwas mit dem Gesicht anfangen.
»Ich glaube, das ist der Mann, der Adriana entführt hat«, erklärte sie.
Rada Stanescu brach in Tränen aus, und ihr Mann legte ihr tröstend den Arm um die Schultern. »Beantworten wir Ihre Fragen. Später? Bitte.« Etwas Flehendes lag in Andreis Stimme.
Erika wurde wieder einmal daran erinnert, warum sie den Außendienst hasste. »Ja, natürlich.« Sie wandte sich an Mihai. »Kann ich Sie kurz sprechen?«
Im Gegensatz zu seinen Verwandten war er nicht besonders entgegenkommend, doch als er beobachtete, wie
sich sein Bruder und seine Schwägerin entfernten, zuckte er die Achseln. »Sie können mich jederzeit aufs Revier zitieren, wenn ich mich weigere, oder?«
»Ich bin nicht von der Polizei.«
»Dann muss ich auch nichts sagen.«
»In diesem Fall wäre ich sehr neugierig, warum Sie nichts sagen wollen.«
Mihai blinzelte hektisch. Vielleicht der Vorbote einer Lüge, vielleicht auch nicht. »Wissen Sie, womit ich mein Geld verdiene?«
»Sie sind Bäcker, und Sie helfen Leuten, hierherzukommen. «
Er lächelte. »Ja und nein. Inzwischen verbringe ich die meiste Zeit damit, Polizeifragen zu den Leuten zu beantworten, denen ich helfe. Ich könnte, ohne zu lügen, behaupten, dass meine Hauptbeschäftigung das Beantworten von Fragen ist.«
»Dann haben Sie ja inzwischen Erfahrung damit.« Mit der offenen Hand lud ihn Erika zum Wagen ein, den Oskar bereits anließ. »Darf ich Sie ein paar Minuten beschäftigen ?«
Trotz seiner Widerborstigkeit mochte sie Mihai Stanescu. Er war brüsk und direkt, eine Eigenschaft,
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