Last Exit
auf. »Haben Sie das Kennzeichen bemerkt?«
»Wenn er rauskommt, sieht man es besser.«
Er spulte vor auf 16:27. Ein Mann trat aus dem Hof, schielte kurz auf die Uhr und gab sich unauffällig. Er hielt den Kopf eingezogen zwischen den Schultern, so dass sein Gesicht kaum wahrzunehmen war, aber Erika schätzte ihn auf Ende dreißig oder Anfang vierzig, eins achtzig bis eins neunzig, dunkelhaarig. Nicht massig. Ungefähr wie die Hälfte der männlichen Bevölkerung Europas.
Erika schrak hoch, als der Mann direkt in die Kamera und ihr in die Augen blickte. »Hat er die Kamera entdeckt ?«
»Stimmt, die Stelle ist mir auch aufgefallen.« Oskar nahm einen Schluck Wein. »Ich glaub aber nicht. Ich denke, er ist auf diesen Wagen aufmerksam geworden.« Er tippte auf die dunkelblaue, fast schwarze Motorhaube eines Autos im Vordergrund, dessen Marke nicht auszumachen war.
Der Mann verschwand aus dem Bild und tauchte um 16:37 wieder auf. Als er rechts etwas bemerkte, zog er sich wieder zurück. Zwischen mehreren Passanten erkannte Erika Adriana Stanescu. Nach all den Fotos, die seit einer Woche in ganz Europa die Runde machten, brauchte sie keine Naheinstellung, um sicher zu sein. Groß für ihr Alter und sichtlich erfüllt von dem fast angeberischen Selbstvertrauen eines hübschen Teenagers. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, Oskar zu erzählen, dass sie vor vielen, vielen Jahren einmal genauso hübsch gewesen war wie dieses moldawische Mädchen. Dann wunderte sie sich über diese Anwandlung, zumal ihr Oskar sicher nicht glauben würde.
Als sie den Hof passierte, trat der Mann heraus und sprach sie an. Sie blieb nicht sofort stehen, erst nach der zweiten Äußerung des Mannes wandte sie sich zu ihm um. Dann zog er eine Karte aus der Tasche und zeigte sie ihr. Das fand sie bemerkenswert. Visitenkarte? Führerschein? Plötzlich fiel es ihr ein: Er hatte sich als Kollege ihres Vaters ausgegeben und dafür natürlich einen Ausweis benötigt. Selbst jetzt zögerte Adriana noch, und Erika bohrte sich die abgenagten Fingernägel in die Handflächen. »Sehr gut, die lässt sich nicht so leicht hinters Licht führen.«
Aber das Ende diese Geschichte war bereits geschrieben, und umso schmerzhafter war das Zuschauen. Der Mann trat zur Seite, um Adriana vorbeizulassen. Dann folgte er ihr.
»Das geht jetzt ganz schnell.« Oskar trank sein Glas leer.
Und so war es tatsächlich. Drei Minuten später, um 16:45, rollte der BMW langsam auf die Straße. Ein Fahrer, keine sichtbaren Mitfahrer. Er bog nach rechts und glitt aus dem Bild.
»Moment noch«, sagte Oskar.
Der BMW tauchte auf der vorderen Seite der Straße wieder auf und fuhr in der entgegengesetzten Richtung zum Mehringdamm. Dann war er verschwunden.
»Jetzt aufgepasst.«
»Was?« Sie spürte, wie sich Niedergeschlagenheit in ihr ausbreitete.
Dann bemerkte sie es: Das blaue Auto im Vordergrund, ein Opel mit Berliner Kennzeichen, schob sich weiter ins Bild und fuhr in die gleiche Richtung wie der BMW.
»Oh«, entfuhr es ihr.
Sie ließen das Band noch zweimal ablaufen, und Oskar notierte den wichtigsten Zeitpunkt, 16:39, zu dem das Gesicht des Mannes am besten zu erkennen war. Er redete mit Adriana und hob den Kopf, um seine Offenheit und Freundlichkeit zu demonstrieren.
Um 16:46, als er auf den Mehringdamm zusteuerte, hatten sie einen klaren Blick auf die Nummernschilder des BMW, die Oskar zusammen mit denen des Opels eine Minute später festhielt.
Als sie in der Berliner Dienststelle anrief, um einen Nachtkurier anzufordern, war es schon fast eins, und sie fühlte sich leicht berauscht vom Wein und von der Erkenntnis, dass sie einer bedeutenden Sache auf der Spur waren. Der Kurier brachte einen Umschlag, in den sie die Kassette und eine Nachricht mit der Bitte an die Pullacher Kollegen legten, anhand der hauseigenen Gesichtserkennungssoftware
den Mann zu identifizieren, der um 16:39 mit dem Mädchen sprach. Sie bezweifelte, dass dabei etwas Brauchbares herauskommen würde – die Software war berüchtigt für ihre Fehler –, aber zumindest konnten sie das Bild aufbereiten.
Der Kurier klebte den Umschlag gleich in ihrer Gegenwart zu und versprach, ihn bis spätestens sieben Uhr früh zuzustellen. Auch ihm waren Oskars blaues Auge, die leeren Weinflaschen und Gläser und die Videokamera sicher nicht entgangen, aber er war zu gut ausgebildet, um sich etwas anmerken zu lassen.
4
Erika wusste erstaunlich wenig über die orthodoxe Kirche. Zum großen Teil bezog sie ihr
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