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Last Exit

Last Exit

Titel: Last Exit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olen Steinhauer
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die auch Erika oft vorgeworfen wurde. Wie sein Bruder war er klein, wenn auch deutlich stämmiger. Seinem Bart konnte man förmlich beim Wachsen zusehen, und als er in dem Kreuzberger Café, in dem sie sich schließlich niederließen, die Krawatte abnahm, kroch ihm das dichte schwarze Haar aus dem Kragen. Erika bestellte einen Espresso, bedauerte ihre Entscheidung aber sofort, als Mihai einen Trendelburger Feuergeist verlangte, einen treffsicher benannten Kräuterlikör, den sie auch ganz gut hätte gebrauchen können. Als sie zu lange auf sein Glas
starrte, zog er die Augenbraue hoch. »Sie bezahlen das, oder?«
    »Selbstverständlich.«
    »Gut.« Er kippte den Likör in einem Zug. »Wer ist der Scheißkerl?«
    Sie schielte hinüber zu Hans Kuhn an der Tür, den sie gebeten hatte, sich im Hintergrund zu halten. »Haben Sie Inspektor Kuhn noch nicht kennengelernt?«
    »Den meine ich nicht.« Er tippte mit einem kurzen Finger auf den Tisch. »Der auf dem Bild. Der meine Nichte entführt hat.«
    »Das weiß ich noch nicht.«
    »Sind Sie sicher, dass er es war?«
    »Wir haben eine Videoaufnahme, auf der er kurz vor ihrem Verschwinden mit ihr redet.«
    Seine Wangen und Stirn liefen rot an, dann winkte er dem Kellner, um noch einen Feuergeist zu bestellen.
    »Und?«, hakte sie nach.
    »Sie wollten mir doch Fragen stellen.«
    »Sie wissen doch genau, was ich wissen möchte.«
    Das schien ihn aus der Fassung zu bringen. Er lehnte sich zurück, um sie zu mustern, dann beugte er sich wieder vor. »Sie wollen erfahren, ob ich einen Verdacht habe.«
    »Ja.«
    »Wenn es so wäre, würde ich es sagen.«
    »Dann erzählen Sie mir von Adriana. Warum ausgerechnet sie?«
    »Woher soll ich das wissen?«
    »Verraten Sie es mir.« Sie war sich sicher, seit er sich als Beschützer der Eltern aufgespielt hatte; die Gewissensbisse standen ihm ins Gesicht geschrieben. »Adriana Stanescu, fünfzehn, aus Moldawien wie Sie. Nichts davon ist ungewöhnlich, aber sie hatte was Besonderes. Deswegen
wurde sie verschleppt. Und Sie sagen mir jetzt, was an ihr so besonders war.«
    Der zweite Feuergeist rann nicht mehr ganz so schnell durch die Kehle wie der erste, während er sich seine Antwort überlegte. Schließlich stellte er das halbleere Glas ab. »Ich habe Bedingungen.«
    »Natürlich.«
    »Schweigen. Was ich Ihnen erzähle, ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Können Sie mir das versprechen? Ich möchte Ihnen nur bei Ihrer Arbeit helfen, nichts weiter. Weil ich will, dass Sie diesen Fall aufklären.«
    Wenn sich seine Informationen als wertvoll erwiesen, hatte es Erika nicht in der Hand, ob sie an die Öffentlichkeit drangen. Die Entscheidung darüber wurde einen Stock höher gefällt, und ihre Meinung zur Sache war nur noch eine von vielen plappernden Stimmen, die man – wie üblich – getrost ignorieren konnte. »Das kann ich Ihnen versprechen«, log sie.
    Er trank seinen Feuergeist aus, um sich zu wappnen. Dann fing er an.
    Es dauerte nicht lang, und als er fertig war, wartete er nicht darauf, dass sie das Gespräch offiziell für beendet erklärte. Er stand einfach auf und marschierte durch die Tür, vorbei an Hans Kuhn, der auf ein Zeichen von Erika wartete. Doch sie rührte sich nicht. Reglos saß sie auf ihrem Stuhl und konnte nur ins Leere starren, während ihr durch den Kopf ging, in was für einer erbärmlichen Welt sie lebte. Sie winkte den Kellner herbei und bestellte sich einen doppelten Feuergeist. Manchmal zweifelte sie daran, dass ihre Arbeit überhaupt einen Sinn hatte.

5
    Sie und Oskar waren wieder auf der A9, auf dem Rückweg nach München, und rechts von ihnen stieg die Wintersonne auf. Kurz zusammengefasst hatte sie Mihais Geschichte wiedergegeben, und Oskars Fuß hatte merklich an Kraft verloren, bis sie auf der Überholspur regelrecht dahinkrochen. Sie regte an, dass er beschleunigen oder die Spur wechseln sollte. Er fuhr nach rechts und blinkte sogar dabei; das hatte sie noch nie bei ihm erlebt.
    »Nochmal, aber genauer«, forderte er sie auf.
    Sie holte Atem und spürte das Brennen des Feuergeistes im Bauch. »Adriana war schon vor vier Jahren in Deutschland, zwei Jahre bevor sie mit ihren Eltern hergekommen ist. Damals war sie elf. Mihai wollte, dass ich die Umstände begreife, also hat er mir das arme Dorf beschrieben, aus dem sie stammen. Nichts als Verzweiflung und Alkoholismus, ein trostloser Ort für die Kinder, die dort aufwachsen. Er führt Adrianas Dummheit auf Optimismus zurück, und

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