Last Exit
Verständnis aus einer einzigen Unterhaltung in den achtziger Jahren mit einem rumänischen Informanten, der nach Wien gereist war, um über die Bedingungen seines Engagements zu verhandeln. Er war Professor für Soziologie oder für das Fach, das unter Nicolae Ceaucescus kommunistischem Regime diese Bezeichnung trug, und wollte erklären, warum er einen derart hohen Lohn forderte: Die rumänische Denkweise war so verschwörerisch, dass er nie ohne Gefahr für sein Leben agieren konnte.
Sie hatte damals die Aufgabe gehabt, ihn so weit wie möglich im Preis zu drücken. Die westdeutsche Konjunktur boomte zwar, aber der stärker werdende Einfluss der Grünen stellte alle zukünftigen Budgets des BND in Frage.
Der Professor redete ohne Punkt und Komma, und sie kam kaum zu Wort. Ein endloser Schwall soziokultureller Weisheiten strömte über seine Lippen. Zum Thema der verschwörerischen rumänischen Denkweise begann er mit einer naheliegenden Variablen: der Securitate, der gefürchteten Geheimpolizei des Regimes, die Gerüchten zufolge in der einen oder anderen Weise ein Viertel der Bevölkerung in ihren Diensten hatte. Als sie sich davon unbeeindruckt zeigte, kam er auf Religion und Demokratie zu sprechen.
»In protestantischen Ländern funktioniert die Demokratie. In katholischen Ländern funktioniert sie nur notdürftig. In orthodoxen Ländern funktioniert sie überhaupt nicht.«
Das war eine beunruhigende Aussage, da die gesamte Kalter-Krieg-Strategie von Westdeutschlands ungebärdigem Verbündeten auf der anderen Seite des Atlantiks darauf gründete, dass alle Nationen und Kulturen die Demokratie annehmen konnten und sollten.
»Es geht um das selbstständige Denken«, erläuterte der Professor. »Wie Gottes Wort ausgelegt wird. Die Protestanten glauben, dass man nur eine Bibel braucht, um herauszufinden, wer Gott ist und was er will. Die Katholiken lesen zwar selbst, aber sie brauchen einen Papst, der ihnen bei den schwierigen Stellen hilft. Sie können sich nicht von Sünden freisprechen – das muss die Kirche für sie erledigen.«
»Und bei den orthodoxen Christen?«
Er lächelte. »Eine orthodoxe Kirche bildet die Verbindung zwischen Irdischem und Spirituellem. Die Trennlinie befindet sich im vorderen Teil der Kirche: die Ikonostase. Mittelalterliche Bilder von Christus und den Heiligen starren von ihr herab, als läge auf der anderen Seite der Wand der Himmel, der über die Gläubigen richtet. Dann passiert es. Der Priester tritt hinter die Wand in den Altarraum. Und nach einer Weile erscheint er wieder, um mitzuteilen, was er erfahren hat. Verstehen Sie?«
In Erika wuchs der Argwohn, dass man schon viel zu viel Geld und Zeit in diese fragwürdige Quelle investiert hatte. »Nein, ich verstehe es nicht.«
Dies veranlasste ihn zu einem rhetorischen Ausbruch. »Woher stammt die Wahrheit? Für Protestanten aus der Selbstbetrachtung. Für Katholiken aus einer unterstützten
Betrachtung. Bei orthodoxen Christen hingegen schreitet ein bedeutender Mann hinter eine Wand, führt ein geheimes Gespräch mit Gott und kommt wieder hervor, um Gottes Willen zu verkünden. In der Politik läuft das genauso . Für uns ist die Politik ein dunkles, verrauchtes Zimmer, in dem einige bedeutende Leute eine Vereinbarung treffen. Danach treten sie ins Morgenlicht und teilen den Massen zum Beispiel mit, dass sie jetzt in einem kommunistischen Land leben. Oder in einem kapitalistischen – spielt keine Rolle. Maßgebend ist, dass mein Volk nie daran glauben wird, sein Schicksal in die eigene Hand nehmen zu können. So etwas ist für uns völlig unvorstellbar. Für uns wird die Demokratie immer eine Illusion bleiben.«
Erika nickte, wenn auch nur aus Höflichkeit. Dann fiel ihr auf, dass sie noch immer keine Antwort auf ihre eigentliche Frage erhalten hatte. »Und deshalb fordern Sie das Doppelte des Betrags, den wir Ihnen angeboten haben?«
»Meine Liebe, in einer Welt, wo alles Wichtige hinter verschlossenen Türen entschieden wird, würden die Menschen draußen ihre eigene Mutter töten, um die Gunst der Menschen drinnen zu gewinnen. Sie verraten jeden, der irgendwie anders riecht – auch wenn es sich um Rosenduft handelt. Sie sehen, ich muss gar nicht für Sie arbeiten, um mein Leben zu riskieren; es reicht schon, wenn ich den Zug zurück nach Bukarest nehme. Sie bezahlen mich nicht nur für meine Kooperation, sondern auch für meine Rückkehr.«
Knapp fünfundzwanzig Jahre später bemühte sich Erika, diese
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