Last Exit
Blick. Dann klemmte sie sich die Flasche zwischen die Schenkel und legte die Hände auf die Knie. »Einer der schlimmsten Flüche in unserem Gewerbe ist unsere Fantasie. Wir müssten alle ohne sie geboren werden.«
»Fahren Sie fort.«
»Ist das wirklich nötig? Sie wissen doch genau, was als Nächstes kommt. Fünf bis zehn Männer pro Abend, und wer genug bezahlt hat – also die meisten –, konnte mit ihr machen, was er wollte. Nach jedem Besuch wurde Adriana untersucht, denn jede Prellung wurde dem Gast extra in Rechnung gestellt. Adriana hat viel Geld für sie verdient. Aber dann …« Unwillkürlich griff sie nach der Flasche und hob sie bis kurz vor die Lippen. »Sie hatte Glück, wenn man so will. Sie hatte einen Onkel, der schon seit Jahren in Deutschland war, ein Mann, der sich im kriminellen Milieu auskannte. Sein Bruder hat ihn angerufen und ihm erzählt, dass Adriana verschwunden war. Von ihrer neidischen Freundin wusste er, dass sie als Model in
Deutschland arbeitet. Andrei war zu sehr Dorfbewohner, um die Sache zu durchschauen, aber Mihai hat sofort verstanden. Er hat seine Hausaufgaben gemacht. Von den Einwanderern, denen er geholfen hat, hatten einige Kontakte zu den Menschenhändlern. Sie konnten ihre Spur nach Hamburg und dann nach Berlin verfolgen. Und dann …« Sie stockte wieder, ohne die Flasche zu beachten. »Ich hab ihn nicht gefragt, warum er nicht einfach die Polizei gerufen hat. Ich glaube, ich kenne den Grund, aber mir wäre es lieber gewesen, es direkt aus seinem Mund zu hören.«
»Er hat kein Vertrauen zu den Bullen.«
»Ja, nur das ist es gar nicht. Es ging ihm um seinen Bruder. Adrianas Vater ist ein naiver Mensch. Wenn die Polizei in dem Bordell eine Razzia gemacht und sie mit Begleitung zurück nach Moldawien geschickt hätte, hätte er alles erfahren. Das wollte Mihai seinem Bruder ersparen. Und er will es noch immer – deswegen hat er mich versprechen lassen, dass ich schweige. Und deswegen hat er die Sache vor vier Jahren selbst in die Hand genommen. Er ist an die Betreiber des Berliner Hauses herangetreten und hat ihnen ein Angebot gemacht. Wenn sie ihm das Mädchen überlassen, können sie über seine Bäckerei Geld waschen. Sie dachten, er ist verrückt, und haben ein Gegenangebot gemacht. Das Mädchen gegen den Laden. Er darf ihn weiter führen, aber als Lohnempfänger, und der ganze Gewinn fließt auf ihr Konto.«
Diese Einzelheiten hatte sie bei ihrem ersten Bericht übersprungen, und Oskar wartete ungeduldig auf Mihais Antwort. »Und?«
»Was hätte er tun sollen? Er hat ihnen die Bäckerei überschrieben und Adriana zu sich nach Berlin geholt. Er hat sie gepflegt, bis sie wieder auf dem Damm war, und sie
dann zurück nach Moldawien geschmuggelt. Es war ein Geheimnis zwischen ihnen – ihre Eltern sollten weiter glauben, dass sie als Model gearbeitet hat.«
Oskar ließ sich das Ganze durch den Kopf gehen, aber wie er es auch drehte und wendete, es ergab keinen Sinn. »Und Andrei hat nicht Verdacht geschöpft? So blöd ist doch niemand.«
»Das habe ich auch gesagt. Mihai glaubt, dass Andrei einen Verdacht hatte, aber zu entsetzt war, um danach zu fragen. Trotzdem hat er sich verändert. Einen Monat nach Adrianas Rückkehr hat er Mihai am Telefon gebeten, ihm zu helfen, damit sie nach Deutschland übersiedeln können. Er wollte es für Adriana tun, denn wenn sie weggelaufen war, um nach Deutschland zu kommen, dann musste es ihr sehr wichtig sein.«
»Der Mann lebt mit Scheuklappen.«
»Wie wir alle«, meinte Erika. »Als ich Mihai nach Namen gefragt habe, wurde er nervös – zum ersten Mal während unserer Unterhaltung. Aber er hat mir einen genannt. Rainer Volkert, dem seine Bäckerei gehört hat. Sagt Ihnen das was?«
»Nein. Sie gehört ihm nicht mehr?«
»Dem gehört gar nichts mehr, weil er tot ist.« Wehmütig starrte sie in den grauen Himmel. »Auch mir hat sein Name zuerst nichts gesagt, aber als wir eingestiegen sind, ist mir eine Meldung aus dem Hamburger Abendblatt eingefallen. Letzten Monat, erste Januarwoche, glaube ich. Rainer Volkert wurde erschossen am Elbeufer aufgefunden. Und wissen Sie, was er laut dem Artikel war?«
»Nein.«
»Ein Philanthrop.«
6
Radovan Panić war gerade seit knapp einer Woche zu Hause, um Vorbereitungen für die Krebsbehandlung seiner Mutter in Wien zu treffen, als er in einem verrauchten Café in Novi Beograd von einem Freund erfuhr, dass das Parlament von Kosovo, der serbischen Provinz, um die sie in einem
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