Last Exit
hinunterschlangen und ein wenig herumtrabten, um sich die Beine zu vertreten. Dann rauschten sie weiter nach Polen; dabei lösten sie sich am Steuer ab, damit alle reihum auf der Rückbank ein Nickerchen machen konnten. Der letzte Abschnitt nach Lodz war besonders trostlos. Kurz vor Warschau tankten sie voll und vergewisserten sich, dass die komplette Beleuchtung funktionierte – ein polnischer Polizist, der sie wegen eines kaputten Blinkers herauswinkte, wäre fatal gewesen. Schließlich fuhren sie in die Stadt und parkten so nahe wie möglich beim Marriott.
Während sie die Treppe zu Weavers Zimmer hinaufstiegen, konnte sich Oskar nur mühsam beherrschen. In der letzten Stunde war sein Adrenalinspiegel beim Gedanken an das Video immer weiter hochgeschnellt. Dieser Mann, das Mädchen und der Bericht über ein professionell gebrochenes Genick. Dazu letzte Woche die Bilder der untröstlichen Eltern, die im Fernsehen ihre jämmerliche Bitte vortrugen, und später die persönliche Begegnung mit ihnen vor der bulgarischen Kirche. All diese Erinnerungen verschmolzen zu einem Hass, der ihn selbst überraschte, und er musste beruhigend vor sich hin flüstern, um zu verhindern, dass er diesen CIA-Kerl einfach umbrachte.
Kurz vor dem Zimmer zog er dreißig Milligramm Flurazepamhydrochlorid in eine Spritze. Gustav fand den Schalter zum Löschen der Gangbeleuchtung, während
Heinrich mit einer selbst gemachten Generalschlüsselkarte die Tür entriegelte. Langsam schlichen sie hinein, und die zwei Helfer wären im Schein des Fernsehers fast in lautes Lachen über Weavers Schnarchen ausgebrochen. Nur Oskar musterte mit ernstem Gesicht die Gestalt auf dem Bett. Der Mann war halb entkleidet, stank nach Alkohol und Zigaretten, und seine Nase war geschwollen, wahrscheinlich von einem Fausthieb. Dann bemerkte er den Softpornostreifen auf dem Bildschirm. Er schloss die Tür.
Als sie ihn festhielten, schoss Oskar in den Sinn, ob er nicht einfach einen Fehler machen sollte. Der Gedanke kam und ging ganz schnell, trotzdem empfand er ihn als aufmunternd. Er musste nur den Kolben an der Spritze ein wenig lockern, um etwas Luft hineinzulassen, dann konnte Gott entscheiden, ob die Blase diesen Kindermörder töten sollte. Wenn ihn Erika später zur Rede stellte, konnte er sich jederzeit auf die Dunkelheit im Zimmer herausreden.
Gleich darauf, als der Amerikaner schon schwächer wurde und ihn die Agenten in ein Laken wickelten, setzte sich Oskar zu ihm aufs Bett. »Keine Sorge. Wir bringen dich nicht um. Noch nicht.«
»Sind Sie Deutscher?« Weaver konnte nur noch lallen.
»Ja.«
Weavers Erwiderung war kurz und vollkommen unverständlich. Dann verlor er das Bewusstsein.
Während die anderen den CIA-Agenten verschnürten, sammelte Oskar die Gegenstände auf dem Nachttisch zusammen. Ein Ring ohne Schlüssel, eine Sonnenbrille, eine Brieftasche und ein Pass auf den Namen Sebastian Hall, ein iPod, ein billig wirkendes Nokia, das er sorgfältig zerlegte, ehe sie aufbrachen.
10
Als Milo mehrere Stunden später zu sich kam, umgab ihn schwankende Dunkelheit, die sich seinem Blick entzog. Von allen Seiten drang ein hohes Wimmern auf ihn ein. Er war zu einer verkrampften Embryohaltung zusammengekrümmt, die Arme hinter dem Rücken, und hatte starke Schmerzen von einer gemeinen Mischung aus Kater und den Nachwirkungen der Spritze, die ihm verabreicht worden war. Sosehr er sich auch anstrengte, er konnte sich nicht ausstrecken, die Welt wollte nicht aufhören zu beben, und dieses hohe Wimmern ließ nicht nach. Dann wurde es ihm klar: Er lag im Kofferraum eines Autos.
Keuchend rang er nach Luft, als ihm alles wieder einfiel: das kurze Erwachen und die drei Deutschen im matten Schein des Fernsehbildschirms, über den sich nackte Frauen wälzten.
Panik bekämpft man am besten, indem man sich so genau wie möglich in Raum und Zeit verortet. Es war mindestens schon Vormittag – durch die Kofferraumfuge sickerte trübes Licht. Er stank zwar nach mehreren Dingen, aber nicht nach Urin. Das hieß, dass sich seine Blase noch nicht geleert hatte. Daher konnte er sich nicht vorstellen, dass es schon Nachmittag war.
Raum: Er befand sich auf einer Autobahn, und zwar auf einer vielbefahrenen, nach den häufigen Spurwechseln
des Wagens zu schließen. Vermutlich auf der E30, die von Warschau aus nach Westen führte.
Wann hatten sie ihn geschnappt? Um elf war er im Bett gewesen – wie lange lief im polnischen Fernsehen Porno? Bis drei oder vier wohl. Sie
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