Laubmann 1 - Der zerrissene Rosenkranz
Zeigefinger nervös über seinen Oberlippenbart. «Wiederum der Zeuge», fuhr Lürmann fort, «bezeichnete die fallende Frau als ‹ Lichterscheinung›. Den Begriff hat er mir so diktiert, ins Protokoll.»
«Die Fakten, bitte», warf Glaser ungeduldig ein. «Liegen wenigstens konkrete Angaben zur Tatzeit vor?» «Unser Zeuge geht – besser: ging – von einer Tatzeit kurz vor 23 Uhr aus; genau 22 Uhr 58. Das stimmt aber nicht! Er gibt an, ‹instinktiv› die Autouhr abgelesen zu haben; ‹als hätte ich geahnt, daß es wichtig ist›, sagt er. Ich hab sie aber überprüft. Die Uhr ging mindestens – mindestens! – sechs Minuten vor.» Ernst Lürmanns Faible für akkurate Polizeiarbeit und generell für das Dienstliche war bekannt. «Halten Sie das für so entscheidend, ich meine, beim momentanen Stand der Ermittlungen?» fragte der Kommissar.
«Im Moment nicht so sehr; aber so was kann sich ja ändern.» Kriminalkommissar Lürmann wunderte sich immer wieder, wie Details bei Ermittlungen anfänglich heruntergespielt wurden, obwohl sie später von großer Bedeutung sein konnten.
Laubmann mischte sich ein. «Sie sprechen die ganze Zeit von den Angaben des Zeugen, als wären sie absolut verläßlich. Was aber, wenn der Zeuge sich nur wichtigtuerisch verhält? Wie ernsthaft ist seine Aussage über den ominösen Schatten zu bewerten, wenn er sich schon mit der Uhrzeit irrt? Und dann erst seine Erscheinungsphantasie; kommen Sie mir doch damit nicht! So engelsgleich.» «Er will aber gerade an der Stelle, von wo aus Franziska Ruhland auf die Straße gestürzt ist, kurz nach dem Unfall Schritte gehört haben», konterte der Kommissar. «Sich entfernende Schritte», verbesserte Lürmann. «Kann das nicht genauso ein Hirngespinst sein?» fragte Laubmann nach. «Selbst wenn wir davon ausgehen, daß nach dem Unfall für einige Zeit eine recht bedrückende Stille geherrscht hat – die Stille des Todes immerhin –, wie will der Zeuge unter dem Eindruck des Ereignisses von der gegenüberliegenden Straßenseite aus die Richtung von Schritten exakt bestimmen?»
«Zumindest hat er seinen Wagen sofort verlassen und sich zum Unfallort begeben. – Das ist doch so im Protokoll fest gehalten?»
Lürmann bestätigte dies.
Laubmann bereiteten die Gedankenspiele Vergnügen. «Und wenn er nur seine eigenen Schritte vernommen hat?» «Er hat ja auch den Schatten gesehen», betonte Glaser. «Haben Sie denn Fußspuren entdecken können?» «Das war leider unmöglich», antwortete ihm der Kommissar bedauernd. «Der Rasen ist noch sehr dicht und beim Fußweg im Park handelt es sich um einen Kiesweg, der keine brauchbaren Spuren hergibt. Und um Ihrer nächsten Frage zuvorzukommen, nein, der Weg ist nicht beleuchtet. Außerdem hätte der Zeuge aufgrund der Bäume und der vielen Büsche dort von seinem Blickwinkel aus nie und nimmer jemanden erkennen können.»
Lürmann ergänzte: «Der Fahrer des Unfallwagens, Eduard Lang, kann übrigens die Aussagen des Zeugen Walter Frantz nicht bestätigen. Das müssen wir einfach seinem Schockzustand zugute halten. Er ist deshalb aus seinem Wagen auch nicht gleich ausgestiegen. Und bedenken Sie bitte, wenn der Zeuge Frantz ein ‹Wichtigtuer › wäre, würde das Verhalten des Unglücksfahrers möglicherweise in einem viel schlechteren Licht erscheinen.»
Glaser zog den Rosenkranz noch einmal in seiner vollen Länge von der Tischplatte hoch. «Aber ein Indiz haben wir jetzt ganz außer acht gelassen. Der Rosenkranz könnte auf einen Tatverdächtigen hinweisen, der ihn am Unfallort verloren hat, etwa an dem Platz, wo der Schatten im Schein werferlicht zu sehen war. Ich kenn mich damit ja nicht so aus, aber der Rosenkranz wirkt wie neu, abgesehen davon, daß er zerrissen wurde. Der hat da nicht lang gelegen.» Lürmann betrachtete den Rosenkranz mit gemischten Gefühlen: «An das Rosenkranzbeten kann ich mich erinnern, zur Zeit meiner Großmutter, besonders an seine Endlosigkeit.»
«Dabei kann ich Ihnen weiterhelfen», sagte Dr. Laubmann, indem er auf das Gebetsutensil deutete. «Das wollten Sie mich doch schon von Anfang an fragen, was ein Rosenkranz ist; das hab ich gleich gemerkt. Der Rosenkranz ist nämlich in seiner Entstehung nicht mal so einfach zu erklären. Zunächst wechseln sich, rein äußerlich, kleinere Kügelchen mit größeren ab; sehen Sie das? Die größeren symbolisieren das ‹ Vaterunser›, die kleineren den ‹Englischen Gruß›. Damit wird der Gruß des Engels bezeichnet,
Weitere Kostenlose Bücher