Laubmann 1 - Der zerrissene Rosenkranz
der sich an Maria wendet und ihr die Geburt eines Kindes ankündigt, dem sie den Namen ‹ Jesus› geben soll; Lukasevangelium, Kapitel 1, Vers 28 herum. Man sagt meistens ‹ Ave Maria› oder ‹ Gegrüßet seist Du, Maria› statt ‹Englischer Gruß ›.» Die religiöse Übung, ein Gebet mehrfach hintereinander zu wiederholen, fuhr der Theologe fort, habe einen meditativen Charakter und lasse sich bis ins frühe orientalische Mönchtum der ersten Jahrhunderte nach Christus zurückverfolgen, was die christlichen Gebete betreffe. Eine meditative Gebetshaltung würden ja auch andere Religionen kennen, ebenso Gebetsschnüre, und mehr sei der Rosenkranz zuerst mal nicht. «Gab's denn für Sie verwertbare Fingerabdrücke auf den Holzperlen?» Der Kommissar verneinte.
«Im Mittelalter wird es dann etwas komplizierter, weil mehrere Traditionen ineinanderfließen. Das in der Jesustradition stehende ‹ Vaterunser› wird zunächst mit dem ‹ Ave Maria› der Marientradition verwoben. Es spielte ja damals eine Rolle, daß die meisten des Lesens unkundig waren. Und wenn man jemandem als Buße das Abbeten der 150 verschiedenen Psalmen des Alten Testaments auferlegen wollte, mußte das zwangsläufig scheitern. Wenn man für die Psalmen aber ein Gebet wie das ‹ Ave Maria › einsetzt, das alle auswendig und dementsprechend oft wiederholen können, erzielt man die gleiche Bußleistung; wobei die rein quantitative Einschätzung des Gebets sicher als ein kritischer Punkt beurteilt werden muß.» Philipp Laubmann verdrehte die Augen; Dietmar Glaser hatte seine fast geschlossen; Ernst Lürmann stierte geradeaus, Laubmanns Erklärung schon überdrüssig.
«Nun besteht so ein Rosenkranz, wie er vor uns liegt, hauptsächlich aus fünf Reihen mit jeweils zehn ‹ Ave Marias ›. Das ergibt aber nur die Zahl 50.» Doch zusätzlich könne man den Rosenkranz in verschiedener Weise beten, nämlich als freudenreichen, schmerzhaften und glorreichen Rosenkranz. Zähle man die drei unterschiedlichen Rosenkränze zusammen, erreiche man schließlich die Zahl 150. «Das ist aber noch nicht alles …»
«Herr Dr. Laubmann», schaltete sich Kommissar Glaser ermüdet ein, «Sie halten sicher großartige Vorlesungen, und ich weiß Ihre Kenntnisse zu würdigen, aber ganz gegenwärtig gefragt: Wer könnte solch einen Rosenkranz in der Tasche haben, im Alltag?»
«Vermutlich ein sehr religiöser Mensch; vielleicht ein einseitig religiöser Mensch, der sich verrannt hat, vielleicht sogar ein ernsthaft Glaubender, könnt ich mir denken.» «Nehmen wir noch mal an, Professor Konrad stand in engerer Beziehung zu Franziska Ruhland, und nehmen wir an, jemand hatte Kenntnis davon und hielt die Angelegenheit aus religiösen Motiven heraus für wesentlich schlimmer, als sie wohl war, wären dann der Professor und die Getötete nicht erpreßbar gewesen?» fragte Glaser.
«Und der Rosenkranz sollte vielleicht zur Abwehr des Bösen dienen», mutmaßte Laubmann. «Es ist allerdings nach wie vor umstritten, ob der Mensch, wie unter anderen Kant meint, von Natur aus einen Hang zum Bösen hat. Oder ob das Böse, das der Mensch tut, nicht vielmehr seinem Mangel an Phantasie und der Trägheit seines Herzens zuzuschreiben ist.»
«Trägheit des Herzens», unterbrach ihn Glaser, seine letzten Worte wiederholend. «Wir werden auch darüber nachzudenken haben.»
IV
Der Kommissar ahnte es bereits: Diese ganze kirchliche Atmosphäre würde ihm suspekt vorkommen; denn so war es seiner Erfahrung nach immer mit solch großen Organisationen. Sie machten aus ihrem Innenleben ein Geheimnis. Einzelne Vorgänge würden nie bis ins letzte durchschaubar sein. Gleichwohl hatte Glaser sich vorgenommen, wenigstens etwas Licht in dieses Dunkel zu bringen. Deshalb begab er sich am späten Nachmittag zu einem ehemaligen profanen Adelspalais auf dem Domberg, wo «Seine Herrlichkeit» – wie man ihn fast ansprechen möchte –, Prälat Albert Glöcklein, residierte. Er nahm als Bischofsvikar unter anderem die Aufgabe wahr, seinen Bischof und das Ordinariat, also das Verwaltungszentrum des Erzbistums, gegenüber dem Fachbereich Katholische Theologie an der staatlichen Universität zu vertreten. Da die meisten Theologieprofessoren Priester sind, können sie von der Kirchenbehörde auch seelsorgliche Aufgaben übertragen bekommen, sofern es ihre Zeit erlaubt. Und dies zu organisieren, gehörte beispielsweise zum Aufgabenbereich des Prälaten Albert Glöcklein.
Natürlich entstanden
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