Laubmann 1 - Der zerrissene Rosenkranz
Kälte des Raumes. Die Nähe des Todes, der ihn in seiner unmittelbaren Umgebung erschreckt hatte, berührte ihn. Schuldgefühle stiegen in ihm auf. Stämmige Säulen unterteilten die Krypta in ein breiteres Mittelschiff und zwei schmale Seitenschiffe. Bischöfe waren hier bestattet; und ein König, in einer neoromanischen Tumba – der Staufer Konrad III., der 1152 zu Bamberg gestorben war. Gewiß waren das von Tilman Riemenschneider kunstvoll geschaffene Kaisergrab, das die Überreste der Bistumsgründer Heinrich und Kunigunde bewahrte, oder die Marmortumba Papst Clemens II. im Dom bedeutender, doch der Professor mochte das Grab Konrads III. lieber, schon der Namensgleichheit wegen. Sogar ein Ziehbrunnen fand sich in der Krypta, ein Symbol für die Taufe und ein Ort der realen Taufspendung zugleich. In den hinteren Teil des unterirdisch gelegenen Kirchenraums führten steile Treppen hinab. Der rechte Treppenabgang, der als Zugang zur Krypta genutzt wurde, war nur wenig ausgeleuchtet; der linke lag in völliger Dunkelheit.
Professor Konrad hatte hier unten oft den Eindruck, beobachtet zu sein, was einfach daher rührte, daß er aufgrund des helleren Altarraums die Mitfeiernden nur schwerlich erkennen konnte. Heute aber fühlte er sich von ihnen richtig kontrolliert. «Herr, vergib uns unsere Schuld …» – vielleicht hatte er diese Bitte etwas zu inbrünstig vorgebetet. Hatten da und dort nicht einige Gläubige verwundert den Kopf erhoben? Und stand nicht dahinten am linken Treppenabgang, halb verdeckt von einem Gewölbebogen und ganz in Dunkelheit gehüllt, ein Mann, der ihn auch mit seinen Blicken verfolgte und der ihm früher bereits aufgefallen war? Wenn er ihn wenigstens hätte richtig sehen können! Etwas schneller als sonst, so schnell, daß sich die Gottesdienstbesucher wirklich wundern mußten, wollte Professor Konrad die Feier zu Ende bringen. Außer den Studenten waren nur drei oder vier Angehörige des Ordinariats anwesend. Fast stolpernd hastete er vor den Altar, um die Kommunion auszuteilen. Sein Ministrant, dessen Hosenbeine unter dem roten Rock hervorschauten, konnte gerade noch ausweichen, um ihn vorbeizulassen.
Dr. Philipp Laubmann hielt an diesem Morgen, kurz nach Allerheiligen, zum ersten Mal in diesem Semester sein Seminar, was zu seinen Verpflichtungen als Assistent gehörte. Einige der schon fortgeschrittenen Studentinnen und Studenten besuchten es immer wieder gern – und nicht nur am Semesteranfang –, um ihren theologischen Horizont zu erweitern; denn in Dr. Laubmanns Seminaren «roch» es nicht nach allzu heftiger Anklammerung an offizielle Kirchenmeinungen, eher waren mehr oder minder versteckte Angriffe gegen dieselben herauszuhören. In diesem Semester ging es um das Thema: «Biblisch-theologische Grundlagen für moralische Fragestellungen im sozialen Bereich», so daß ausnahmsweise auch einige Angehörige der sozialwissenschaftlichen Fakultät anwesend waren. Für Laubmann blieb freilich die Theologie die Krone der Wissenschaften.
Philipp Laubmann war stets ein wenig aufgeregt, wenn ein Seminar bevorstand. Er verließ sein Arbeitszimmer einige Minuten früher als nötig und strich noch durch die Gänge, sich dem Seminarraum nähernd. Aus den Hörsälen drang das Stimmengewirr der Studenten.
Am Ende eines der Gänge gelangte Laubmann an eine Tür, die einmal das Außentor eines Vorgängerbaus gewesen sein mußte und ursprünglich ganz aus Holz gefertigt war, heute aber den Flur unterbrach, der sich hin zu einem angebauten Flügel erweiterte. Deshalb waren schmale längliche Glasscheiben in die Tür eingesetzt worden. Wie immer lugte Philipp, bevor er den angrenzenden Bereich betrat, zuerst durch die Scheiben hindurch, um gegebenenfalls jemandem, dem er nicht begegnen wollte, rechtzeitig ausweichen zu können.
Die Tür war nur halb geschlossen, und er konnte dem Tonfall nach eine scharf geführte Belehrung vernehmen, die in dem Satz gipfelte: «Da liegt ja heutzutage das Problem!» Danach erklang eine ruhigere, tiefere Stimme. Laubmann blieb wie angewurzelt stehen und sah erneut so angestrengt durch eine der Scheiben, daß er glaubte, seine Brillengläser müßten von innen beschlagen. Es war ihm überhaupt zu heiß, wie so oft, und wenn er nicht befürchtet hätte, daß es unschicklich sei, hätte er sein nicht unbequem sitzendes Dozentenjackett auf der Stelle ausgezogen.
Erwartungsgemäß bog Josef Maria Hüttenberger um die Ecke, sehr langsam gehend und immer wieder
Weitere Kostenlose Bücher