Laubmann 1 - Der zerrissene Rosenkranz
Treppenabgang war noch nicht zu sehen. Professor Konrad brachte seine Kleidung in Ordnung, seinen Anzug und die Krawatte. Bald war der Platz vor der Kirche leer, da sich bei diesem schlechten Wetter und um diese Jahreszeit noch keine Touristen eingefunden hatten. Er ging, Lockerheit zur Schau stellend, zum Portal. Niemand auszumachen. Wer war der Unbekannte, der ihn so offensichtlich überwacht hatte? Hatte er eine Nachricht für ihn? Hing es mit dem Mordfall zusammen? Schlechtes Gewissen und Wut mischten sich in Konrads Gedanken, ließen sein Herz schneller schlagen. Erneut durchströmte es ihn kalt. Vor ihm lag menschenleer der ausladende geschichtsmächtige Platz zwischen Dom, der alten bischöflichen Hofhaltung und der fürstbischöflichen Neuen Residenz. Und zum ersten Mal seit Tagen waren Tränen nicht zu verhindern, weil ihn das Vergangene um Franziskas Tod wieder einholte. So wollte er nicht gesehen werden. Er mußte weg von hier, damit ihn wirklich niemand sehen konnte, in dieser Zone unmittelbarster Kirchlichkeit – und in diesem Zustand innerster Beklommenheit. Er hastete quer über den kopfsteingepflasterten Platz und auf die Straße zu, die an einem Hang gleich hinter der Residenz hinab in die Altstadt führte. Wenigstens waren hier keine Leute unterwegs. Seines Verfolgers glaubte er sich entledigt zu haben. Dann fing es heftig zu regnen an. Vor Wut und Getriebensein stöhnte er auf, preßte die Augen zusammen. Die steil aufragende Barockresidenz schien sich, als er nach oben blickte, in seine Richtung zu neigen, als wolle sie auf ihn herabstürzen.
«Ich muß allem entgehen!» wütete es in ihm, die Fäuste ruderten durch den Regen, als seien die Tropfen Geschosse und als müßte er sich von irgendwelchen Fesseln befreien. Wo war jetzt Gott; der gütige Gott, der alles vergebende Gott? Ein Würgegefühl schmerzte, der Hals schien sich ihm zuzuziehen. Er mußte die Straßen verlassen.
Nur unweit der Residenz konnte man durch ein unscheinbares Gittertor, das neben einem niedrigen Gebäude angebracht war, auf einen langen engen Weg gelangen, der sich über Stufen hinweg serpentinenartig in den rekonstruierten Terrassengarten der ehemaligen Benediktinerabtei St. Michael hinaufwand. Er hatte nicht vor, das höherliegende großartige Klosterareal zu betreten und den weiten Blick über Bamberg hinaus zu genießen, sondern er wollte nach all dem Gejagtsein, dem Hinab- und Hinaufhetzen zwischen Dom- und Michelsberg einfach irgendwie zur Ruhe kommen.
Professor Konrad suchte Schutz, und wenn es nur einer der kahl gewordenen Bäume war, die ihn vor dem Regen schützen mochten, oder der offenstehende, weil als Durchgang genutzte barocke Pavillon auf einer der Terrassen. Das unaufdringliche Licht des verregneten Morgens empfand er jetzt als wohltuend, zumal ihm nach wie vor niemand begegnete. Ein Busch riß ihm im Vorbeihasten in die geballte Faust. Ein unterdrückter Schrei folgte, mehr aus Wut als vor Schmerz. «Ich rufe zu Gott, ich schreie, ich rufe zu Gott, bis er mich hört.» Der Satz aus den Psalmen stand ihm plötzlich vor Augen, und er sprach ihn aus. Beinahe übergangslos – er wußte nicht, warum – wollte sich nun scheinbar alles in den Gedanken und Empfindungen Konrads klären. Die Bäume, der Pavillon, den er erreicht hatte, ragten ruhevoll vor ihm auf, die herabfallenden Tropfen klangen besänftigend, während er langsam weiterging. Die Schönheit der Rinden und Blattformen beglückte ihn. Alle Pflanzen waren wie neu erschaffen. Er glaubte, den göttlichen Plan in ihrer Anordnung zu erkennen. Die Nässe störte ihn nicht; und der in der Sakristei liegengebliebene Mantel kam ihm gar nicht in den Sinn.
Das Bild seiner ermordeten Geliebten tauchte in ihm auf. Wie zärtlich hatte sie ihn immer empfangen. Immer erregt, wenn sie sich trafen. Ein Kuß, der manchmal länger dauerte, begleitet von sanften Berührungen und Umarmungen. Wie rasch waren dann auch die Kleider verschwunden, Mund, Hände und all die weiblichen und männlichen Reize verströmten nur noch Liebe, Weichheit, Genuß. Am Ende war er einen weiten Bogen gelaufen, dann doch hinunter in die Altstadt und durch deren Gassen mit ihrem geschäftigen Treiben, und kurze Zeit später fand er sich wieder in der Nähe der Universität.
Hinter einem der Fenster des Hörsaaltraktes der Fakultät verbarg sich derjenige, der Erich Konrad bereits in der Krypta in Augenschein genommen hatte, als habe er nur darauf gewartet, daß der Professor den
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